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Eine Chronik in Fragmenten - Juan Villoros 8.8: El miedo en el
espejo1 über das Erdbeben in Chile 2010
Monika Wehrheim, Universität Bonn (m.wehrheim@uni-bonn.de)
Abstract
Der mexikanische Schriftsteller Juan Villoro (* 1956) befand sich zum Zeitpunkt des schweren
Erdbebens am 27. Februar 2010 in Santiago de Chile. Über die Ereignisse verfasste er eine Chronik
mit dem Titel 8.8: El miedo en el espejo. Una crónica del terremoto en Chile. Den polyphonen, stark
fragmentarisch strukturierten Text begreifen wir als Ausdruck der auf der Textebene
reproduzierten Erfahrung des nicht mehr Deutbaren. Das traumatische Ereignis wird durch eine
Vielzahl von Stimmen in einem collageartig zusammengesetzten Text zum Ausdruck gebracht,
der die Unmöglichkeit, den Schrecken in seiner Gänze zu beschreiben, versinnbildlicht.
During the earthquake of the 27th of February 2010, the Mexican author Juan Villoro (* 1956) was
staying in Santiago de Chile. He captured the events in a chronicle titled 8.8: El miedo en el espejo.
Una crónica del terremoto en Chile. Due to its polyphone, strongly fragmented structure, the text
reproduces an experience, deprived of the act of explanation. Multiple voices construct the
traumatic incident in a collage-like manner. Instead of offering closure, they emphasize the
impossibility to represent the perceived horror in its entirety.
1. Einleitung
Auch in Bezug auf Erdbeben sind die großen Erzählungen vorbei – um Lyotard
(1979) aufzugreifen. Angesichts des Wissens um die unkontrollierbaren
Bewegungen und Kräfte der tektonischen Platten sind mythische oder religiöse
Deutungen früherer Zeiten heute ebenso obsolet geworden, wie der Einbezug von
Erdbeben in philosophische Diskurse.2 Im Zentrum heutiger Wahrnehmungen
1 8.8: Die Angst im Spiegel. Eine Chronik des Erdbebens in Chile. Übersetzungen aus dem Spanischen
von Monika Wehrheim.
2 Marisol Palma Behnke (2014) beschreibt in ihrem Überblick über die narrative Verarbeitung
historischer Erdbeben in Chile mythische Deutungsmuster: So führten die Selk’nam den Beginn
ihrer Kultur auf ein Erdbeben zurück, das ihren Lebensraum, die Isla Grande, vom Festland
abtrennte (2014: 165). Im christlichen Kontext ist die Deutung von Erdbeben als göttliche Strafe
für sündhaftes Verhalten verbreitet und gilt bei den Erdbeben der Kolonialzeit als gängiges
Deutungsmuster, so etwa Santiago 1647 (2014: 166-167). Auch als paradigmatischer Ausgangspunkt
für die Debatte des Theodizee-Problems, wie sie sich insbesondere nach dem Erdbeben von
Lissabon 1755, dessen Opferzahl mit zwischen 30.000 und 100.000 Tote angegeben wurde,
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stehen die Machtlosigkeit des Menschen angesichts nicht kontrollierbarer
Naturgewalten, das Fehlen einer metaphysisch-theologisch begründeten Deutungsmöglichkeit
(Strafe Gottes, Verärgerung der Mutter Erde) und – anders als in
von Menschen verursachten ökologischen Katastrophen – das Fehlen eines
unmittelbar Schuldigen, wobei die Schuldfrage im Zusammenhang mit dem
Ausmaß der Katastrophe angesichts von Baumängeln, ausbleibender Warnungen
oder fehlender Frühwarnsysteme durchaus von Bedeutung werden kann.3 Welche
Folgen hat diese Grundkonstellation für die Möglichkeiten der Beschreibung von
Erdbeben?
In ihrem Aufsatz über Gedichte, die im Anschluss an das Erdbeben von Chile 2010
entstanden sind, sucht Judith Visser nach Bildern und Metaphern, mit denen
Betroffene das Erdbeben begreifbar machen (2012: 178). In Anlehnung an Döring
(2007: 45) fragt sie nach der ‘kategorisierenden Wirkung‘ der Metapher für die
„emotionale und kognitive Auseinandersetzung mit Erdbeben“ (2012: 177).
Bilder wären damit eine Möglichkeit, die als sinnentleert erlebte Katastrophe
beschreibbar und damit verstehbar zu machen. Doch wie ist es möglich, gerade die
Sinnentleertheit der Katastrophe darzustellen? Produziert nicht die Versprachlichung
und Vertextung wieder einen Sinn, eine Deutung? Wie verhält es sich mit
Erzähltexten? Unterläuft nicht gerade deren narrative Struktur wieder das Postulat
der Sinnentleertheit der Katastrophe? Gibt es Verfahren gerade die Sinnentleerung,
die fehlende Deutungsmöglichkeit darzustellen? Im Folgenden
möchte ich die Erdbebenchronik 8.8: El miedo en el espejo von Juan Villoro als einen
Text vorstellen, der in seiner fragmentarischen Struktur gleichsam ikonisch jene
Sinnentleerung des Erdbebens repräsentiert; Sinn erweist sich wenn überhaupt als
ephemere Erscheinung, als momentane Deutung einzelner Menschen in einer
nicht hierarchisierten Stimmenvielfalt.
entfaltete, sind sie Teil eines Bedeutungskontextes. Zum Erdbeben von Lissabon und seinen
‚Nachbeben‘ in der europäischen Geistesgeschichte siehe Breidert (1994).
3 Die Frage nach Schuldigen für die Folgen der Erdbeben spielte z.B. im Falle von Mexiko 1985
und 2017 (Baumängel durch Korruption) oder im Fall von Chile 2010 (die fehlende Tsunami-
Warnung) eine bedeutende Rolle in der Aufarbeitung der Ereignisse.
Wehrheim: Eine Chronik in Fragmenten - Juan Villoros 8.8
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2. Juan Villoro in Chile
Der mexikanische Schriftsteller Juan Villoro (* 1956) befand sich am 27. Februar
2010 in Santiago de Chile, als nachts die Erde bebte. Er nahm in diesem Februar an
einem Kongress über Kinderbuchliteratur in Santiago de Chile teil und erlebte das
Beben der Stärke 8.8 sowie die Folgen in einem achtstöckigen Hotel in Santiago.
Das Epizentrum des Bebens lag vor der Küste der Region Maule, circa 325 Km
südlich von Santiago de Chile entfernt. Insgesamt geht man von 521, vor allem
dem auf das Erdbeben folgenden Tsunami geschuldeten, Toten aus. Große Teile
der Städte Talca, Concepción und Constitución wurden zerstört.4
Über die Ereignisse verfasste Villoro eine Chronik mit dem Titel 8.8: El miedo en el
espejo. Una crónica del terremoto en Chile, die noch im selben Jahr, im August 2010,
publiziert wurde. Das Erdbeben in Chile ist nicht das erste Erdbeben, das Villoro
erlebte. Wie in Chile bebt die Erde in Mexiko häufig – im September 2017
ereigneten sich gleich zwei schwere Erdbeben kurz hintereinander: am 7. September
kam es zu einem Beben der Stärke 8.2 im Golf von Tehuantepec, mit
verheerenden Folgen besonders für die südlichen Bundesstaaten Oaxaca, Chiapas
und Tabasco; am 19. September erschütterte ein Erdbeben der Stärke 7.1 Mexiko,
D.F., sowie die Staaten Puebla und Morelos, just am 32. Jahrestag des Bebens von
1985, das 10.000 Tote forderte.
Als 1956 geborener Mexikaner war Villoro 2010, zum Zeitpunkt des Bebens in
Chile, vor allem das verheerende Erdbeben vom 19. September 1985 präsent, das
er immer wieder als Hintergrundfolie der Beschreibung des chilenischen
Erdbebens im Text aufruft – er spricht denn auch von einem „seismógrafo en el
alma“ (Seismograph in der Seele, 2010: 59), wodurch die erdbebenbedingte
Prägung angezeigt wird. Bereits sechs Monate nach dem Aufenthalt in Chile
erschien der Text über die Ereignisse, Villoro hat also zeitnah mit dem Schreiben
über das Erlebte begonnen. Er selbst thematisiert die Frage des Schreibens über
das Erbeben am Anfang der Chronik, in dem er – zurück in Mexiko - einem
Bekannten auf dessen entsprechende Frage antwortet, er werde schreiben, sobald
seine Hände zu zittern aufgehört hätten (21).
4 Zu den Opferzahlen, Zerstörungen der Städte und den Tsumani siehe den EERI Special
Earthquake Report von 2010.
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3. Das Genre Chronik
Zur literarischen ‘Aufarbeitung‘ des Erlebten wählte Villoro das in Lateinamerika
und insbesondere in Mexiko beliebte und etablierte Genre der Chronik. Villoro
gehört zu eben jener Gruppe mexikanischer Chronisten, als deren bekanntester
Vertreter Carlos Monsiváis gilt, der Villoro stark geprägt hat.5
Vittoria Borsò, die sich in einer Vielzahl von Publikationen mit mexikanische
Chroniken befasst hat, beschreibt das hybride Genre wie folgt:
Sie stellen fragmentarische, nicht einheitliche Sinnbezüge im Modus der
nicht autoritativen, persönlichen Erfahrung her; sie thematisieren
Nebensächliches und Ephemeres und sind Momentaufnahmen
vergangener Ereignisse, die das Prinzip des Zufalls im Dargestellten und
in der Darstellung behaupten (Borsò 1994: 280).
Die Chronik ist in der Regel kein fiktionaler Text, sondern orientiert sich nah an
der Realität, die sie häufig aus unterschiedlichen Perspektiven einzufangen
versucht. Ein herausragendes Beispiel für diesen polyphonen Stil ist die Chronik
Noche de Tlateloco (Die Nacht von Tlateloclco) von Elena Poniatowska, in der die
mexikanische Journalistin das Massaker des Militärs an demonstrierenden Studierenden
auf der Plaza de las tres culturas im Vorfeld der Olympiade von 1968 durch
eine Vielzahl von Testimonios (Zeugenberichte) beschreibt und anklagt (Poniatowska
1971).
Das Genre der Chronik bietet demnach die Möglichkeit einerseits einer starken
Orientierung an den Geschehnissen, anderseits durch das Aufgreifen verschiedener
Stimmen eine Multiperspektivität zu erzeugen. In diesem Sinne schreibt
Borsó: „Ihr Stil steht zwischen journalistischer Reportage und Zitat. Die Pluralität
der Perspektiven und der Stimmen läuft der Bildung einer vereinheitlichten
Erzählperspektive zuwider“ (1994: 281). Freiheiten in der Komposition und in der
Struktur ermöglichen es, Zeugnis von einem Geschehen abzulegen, das sich einer
einheitlichen Deutung entzieht. Auch die Stilebene der Chronik ist nicht
5 Zur Bedeutung des Werks von Carlos Monsiváis für Juan Villoro siehe Gárate (2016: 568-573).
Auch die Chronik 8.8 El miedo en el espejo ist laut Gárate stark beeinflusst von der Erdbebenchronik
„No sin nosotros“. Los días del terremoto 1985-2005 („Nicht ohne uns.“ Die Tage des Erdbebens 1985-
2005), die Monsiváis über das Erdbeben in Mexiko 1985 und die Folgen verfasste (Gárate 2016:
568-569).
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einheitlich: Sie kann keiner Gattung zugeordnet werden, „sie zitiert Elemente aus
verschiedenen Traditionen, wie Roman, Essay, Tagebuch, Reportage und siedelt
sich zwischen ihnen an“ (Borsò 1994: 281).
Diese Freiheit in der Komposition nutzt Villoro in der vorliegenden Chronik auf
vielfältige Weise; man kann sagen, die Polyphonie wird von Villoro auf die Spitze
getrieben – seine Chronik vereint nicht nur Testimonios sondern verschiedene Textsorten.
Dergestalt ist das erlebte Chaos in die Textstruktur eingeschrieben: Der
Text beschreibt nicht nur das Chaos, das durch das Erdbeben entsteht, sondern
bildet das erlebte Chaos, die Zerstörung sowie die Verunsicherung strukturell ab.
Er reproduziert die temblores (Beben) auf der Textebene, ganz im Sinne von
Jakobsons Definition der poetischen Funktion, die „das Prinzip der Äquivalenz
von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination“ projiziere (1960: 94).
Inhalt und Form entsprechen sich: Die durch das Erdbeben fragmentierte Welt
kann nur durch eine fragmentierte Textform beschrieben werden.
Das Fragmentarische seiner Chronik betont Villoro selbst, wenn er schreibt:
Lo que el miedo destruye no se recupera en forma integral. Ésta es una
crónica en fragmentos. Quise ser fiel a la manera en que percibimos el
drama: la población flotante de un hotel reunida en un naufragio. No es
un reportaje de un país que se quebró en su zona sur ni de una capital
que resistió en forma admirable. Es la reconstrucción en partes de un
microcosmos: vidas de paso que estuvieron a punto de extinguirse6
(Villoro 2010: 23).
Die Angst ist nicht in ihrer Totalität fassbar. Die Fragmentierung bietet die
Möglichkeit, diese Situation zu beschreiben, es entsteht ein Mikrokosmos von
Leben, die gefühlt kurz vor dem Ende stehen.
Die fragmentarische Struktur zeigt sich ganz unmittelbar auch im Aufbau des
Buches, das scheinbar assoziativ unterschiedliche Text-Sequenzen aneinanderreiht,
die auf den ersten Blick keine inhaltliche Verbindung haben. Und doch
6 Was die Angst zerstört, gewinnt man nicht wirklich zurück. Dies ist eine Chronik in
Fragmenten. Ich wollte wahrheitsgetreu wiedergeben, wie wir das Drama wahrnahmen: eine
heimatlose, treibende Gruppe von Menschen in einem Hotel, im Schiffbruch vereint. Dies ist keine
Reportage über ein Land, das in seiner südlichen Zone zerbrach, auch nicht über eine Hauptstadt,
die sich auf bewundernswerte Art behauptete. Es ist die stückhafte Rekonstruktion eines
Mikrokosmos: Leben, die sich kreuzen, kurz davor zu erlöschen.
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umkreisen sie ein Zentrum – nämlich, wie Zárate zeigt (2013: 99-100) – das 5.
Kapitel, das das Zusammentreffen und den Austausch der in der Hotellobby nach
dem Beben Gestrandeten beschreibt.
Im Einzelnen ergibt sich folgender Aufbau:
Drei vorangestellten Gedichten von Pablo Neruda folgt der Prolog „Un modo de
dormir“ (Eine Art zu schlafen), der uns im Folgenden noch eingehender beschäftigen
wird. In „El país de las primeras ocacciones” (Das Land der ersten Gelegenheiten)
beschreibt Villoro seine intellektuelle und emotionale Verbindung zu
Chile.7 In „‘Aquí hay temblores, ¿No?‘ Premoniciones“ (‚Hier gibt es Erdbeben,
nicht wahr?‘ Vorahnungen) werden Menschen und ihre Vorahnungen des Bebens
beschrieben. „Lo sucedido“ (Was geschah) präsentiert in klinisch, lakonischem Stil
die Fakten des Bebens vom 27. Februar 2010. „El sabor de la muerte“ (Der
Geschmack des Todes) bildet das Zentrum der Chronik und beschreibt das Leben
nach dem Beben in der Hotel-Lobby.
Es schließt sich mit „Ella duerme“ (Sie schläft) eine mit Kleinschreibung und ohne
Satzzeichen, in einem ganz eigenen Stil gehaltene Liebesgeschichte an, in der ein
Ehemann seine ins Koma gefallene Frau zurück nach Chile bringt – kurz bevor
dort die Erde bebt. „‘Estoy acá.‘ ‘¿Acá dónde?‘ Replicas“ (‚Ich bin hier‘. ‚Wo hier?‘
Repliken), spielt mit dem doppelten Sinn des Ausdrucks Replicas – als Nachbeben
und Gegenrede. Hier entfaltet sich nicht nur inhaltlich ein polyphones Erzählen in
den unterschiedlichen Testimonios, sondern auch über die Referenz auf unterschiedliche
Medien und die Integration von SMS- oder Twittertexten, Blogs und
später publizierter Zeitungsartikel von in der Lobby Gestrandeten wird die
Stimmenvielfalt gleichsam medial befeuert.
„La abolición del azar. Heinrich von Kleist: Moral y destino“ (Die Abschaffung des
Zufalls. Heinrich Kleist: Moral und Schicksal) stellt einen Essay dar, eine
philosophische Abhandlung zur Novelle von Kleist, die das Erdbeben interpretativ
verbindet mit dem Doppelselbstmord von Henriette Vogel und Heinrich
7 Nach Gárate bildet Chile für Villoro eine Art „patria interior de la literatura“ (innere Heimat
der Literatur, 2016: 576).
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von Kleist.8 „Algunas conclusiones. Los habitantes de Claustropólis“ (Einige
Schlussfolgerungen. Die Bewohner von Klaustropolis) thematisiert die globale
Wahrnehmung von Katastrophen und die Illusion ihrer technischen Beherrschbarkeit.
Mit dem Epilog schließt sich inhaltlich der Kreis zum Prolog, wobei die
Klammer, wie wir noch sehen werden, das Motiv des Pyjamas bildet.
Bereits auf den ersten Blick wird deutlich, dass die Chronik Texte ganz unterschiedlichen
Inhalts und ganz unterschiedlicher Gattungen in einer Art Collage
zusammensetzt: Zeugenberichte, eigene Erfahrungen, Fakten, Gedichte, Twitternachrichten,
eine essayistische philosophische Abhandlung zu Kleists Erdbeben in
Chile, literarische Texte usw. Dazu enthält sie eine große Anzahl an intertextuellen
Bezügen, die von Schriftstellern wie Michel Tournier (15), Albert Camus (147),
Sylvia Plath (150), Jules Vernes (161) zu Philosophen wie Paul Virilio (158–163) und
Giorgio Agamben (erstmals erwähnt 23–24) reichen, wobei Letzterer, wie zu
zeigen sein wird, von zentraler Bedeutung ist.
Wie funktionieren in dieser heterogenen Ansammlung von Texten die Repräsentationen
des Erdbebens? In Bezug auf Villoros Roman Materia dispuesta spricht
Morabito (2011) von einem durch Erdbeben geprägten Stil:
Pero [Villoro] necesitaba los temblores por una razón estilística. Su estilo
levitante, aéreo, que evita estéticamente los nexos de continuidad, (los
‘por lo tanto’, los ‘así’, los ‘entonces’, etc.) y los reemplaza por una
sintaxis hecha de puras colisiones y oposiciones, este estilo apto para la
lenta inmersión introspectiva, necesita, para que a los personajes les pase
algo por dentro y nos parezcan vivos, una abundante dosis de
conflagraciones. Y la escritura de Villoro, en efecto, sabe avanzar por
rápido y continuos sacudimientos9 (Marabito 2011: 95).
8 Zu dem literarischen Text „Ella duerme“ und dem Essay zu Kleist siehe auch die Ausführungen
von Gárate (2018).
9 Aber Villoro benötigte die Beben aus einem stilistischen Grund. Sein schwebender, leichter Stil,
der jede durch Kontinuität geschaffene Verbindung (die ‘Deshalbs‘, die ‘Sos‘, die ‘Danns‘, etc.)
vermeidet und diese durch eine von Zusammenstößen und Oppositionen geprägte Syntax ersetzt,
dieser der Innenschau zugewandte Stil benötigt einen gehörigen Aufruhr, damit den Figuren
etwas nahegeht und sie uns lebendig erscheinen. Und so vermag das Schreiben von Villoro in der
Tat durch schnelle und kontinuierliche Erschütterungen voranzuschreiten.
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Das Fehlen von verbindenden Adjektiven, von Kausalbeziehungen, von Anbindungen
und damit einhergehend von impliziten Erläuterungen des Erzählten ist
demnach charakteristisch für Villoros Distanz erzeugenden Sprachstil.
Andererseits bedient er aber durchaus naheliegende Vorstellungen oder rekurriert
auf explizite Metonymien (wie die zitternden Hände, die sich zum Schreiben erst
beruhigen müssen, Villoro 2010: 21). Auch das Cover des Buchs rekurriert im
Übrigen auf eine naheliegende Bildlichkeit: In einem zerbrochenen Spiegel zeigt es
Godzilla, der Hochhäuser niederstapft, wobei die in schwarz gehaltene Strichführung
übergeht in die von einem Seismographen produzierten Linien. Mit
diesem Bild setzt sich das Buch auf der Ebene des Paratextes intermedial mit dem
Filmmonster in Beziehung, im selben Moment kehrt es jedoch ein von dem Film
angestimmtes Motiv um: gleichen doch die durch Godzilla hervorgerufenen
Erschütterungen denen eines Erdbebens, haben aber eine andere (übernatürliche)
Ursache. Es ist als ginge ein Monster um – doch das Beben entstammt der Erde.
4. Die Fakten
Die Fakten werden im 4. Kapitel „Lo sucedido“ in klinisch lakonischem Ton
präsentiert:
A las 3:34 de la mañana de febrero de 2010 Chile sufrió un terremoto de
magnitud 8.8 en la escala Richter.
El sismo modificó el eje de rotación de la Tierra y el día se acortó en 1,26
microsegundos.
La ciudad de Concepción se desplazó 3.04 metros hacia el oeste, en
dirección del mar. Santiago se desplazó 27.7 centímetros. Los GPS
tendrán que ser ajustados para reubicar a estas ciudades movedizas10
(Villoro 2010: 55).
10 Um 3.34 am Morgen des 27. Februar 2010 erlitt Chile ein Erdbeben mit einer Stärke von 8.8 auf
der Richterskala.
Das Beben veränderte die Rotationsachse der Erde und der Tag verkürzte sich um 1,26
Mikrosekunden.
Die Stadt Concepción verschob sich um 3,04 Meter nach Westen in Richtung Meer. Santiago
verschob sich um 27,7 cm. GPS muss neu justiert werden, damit die verschobenen Städte geortet
werden können.
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Der nüchternen Faktenlage folgt im selben trockenen Stil ein entpersonalisierter,
dennoch subjektiver Eindruck: „El terremoto duró siete minutos en su epicentro y
fue percibido como una subjetiva forma de la eternidad en diversos lugares“11 (55).
Der Eindruck der endlos langen Dauer des ‘nur‘ siebenminütigen Bebens zählt
vermutlich zu einer Konstanten von Erdbebenerlebnissen und ihren Beschreibungen
(vgl. auch den Bericht von Elisabeth Gumberger im vorliegenden Band).
Der kurze Faktenabriss endet mit der prägnanten Reaktion des japanischen
Astronauten Soichi Noguchi, der aus dem Weltraum angesichts des Kataklysmus
die Nachricht schickt: „Rezamos por ustedes“ (Wir beten für Euch, 56).
5. Der Pyjama – die Klammer der Narration
Eine für die Beschreibung von Erdbeben zunächst ungewöhnlich erscheinende
Metapher bildet der Schlafanzug, der in der Chronik das zentrale Motiv darstellt.
Er verbindet Prolog, Mittelteil (in der Lobby) und den Epilog, er ist die Klammer
im Chaos, er produziert eine unterschwellige Verbindung zwischen den Fragmenten,
er wird in den Worten von Gárate zu einem „objeto transicional“ (Objekt
des Übergangs, Gárate 2018: 162).
Der Prolog wird mit dem Bild des Vaters im Pyjama eröffnet. Dieses Bild lässt den
Erzähler in einer Kette von Assoziationen von Kindheitserinnerungen zu Peter Pan
und den Kindern, die nicht erwachsen werden wollen, mäandern zu den ersten,
nie als Schrecken empfundenen Beben vor 1985, die sich mit dem riesenhaften,
Sicherheit vermittelnden Vater im Pyjama verbinden, der nachts durch das Haus
lief – ein Riese, dessen Schritte in der Wahrnehmung des Kindes ein Beben herbeiführten.
Die Sicherheit der scheinbar auf den riesenhaften Vater zurückzuführenden
Beben wird mit der Katastrophe von 1985 zerstört. Nicht die Schritte des
Vaters lassen die Stadt beben, sondern die Erde. Das Erdbeben verwüstet Mexico-
Ciudad. Villoro beschreibt die sich hier vollziehende seismographische Prägung,
wie folgt:
La imagen de un gigante en piyama me resultaba protectora. En 1985 la
relación con los sismos cambió para siempre. Desde entonces, todos los
11 Das Erdbeben dauerte sieben Minuten in seinem Epizentrum und wurde an verschiedenen
Orten als eine subjektive Form der Unendlichkeit wahrgenommen.
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objetos son sismógrafos accidentales. […] Si el agua se mueve en un vaso,
me pregunto si la causa es la Tierra o sólo soy yo12 (Villoro 2010: 19-20).
Das Erdbeben von 1985 bildet den Referenzrahmen der Ereignisse in Santiago.
Auch das Motiv des Pyjamas wird uns in Santiago erneut begegnen. Vermittelte
der Anblick des Vaters im Pyjama Sicherheit, so sind die mit den jeweiligen
Nachtgewändern bekleideten Menschen, die sich nach dem Erdbeben in den
frühen Morgenstunden des 27. Februars in der Lobby des Hotels in Santiago
zusammenfinden, das Sinnbild von Verletzlichkeit. Die Pyjamas werden, in den
Worten von Zárate, zum „símbolo de la fragilidad del sueño y el horror del caos“
(Symbol der Zerbrechlichkeit des Schlafes und des Schreckens des Chaos‘, Zárate
2013: 98).
Villoro taxiert die Nacht-Bekleidungen der herbeigeeilten Menschen:
Poco a poco, la realidad recuperó nitidez. Me sorprendió que tanta gente
usara piyama. Vi camisones de algodón, elegantes prendas con
monograma, un batón de seda. Mi favorita fue la piyama de Laura
Lecuona, responsable de las ediciones infantiles de SM en México. Era
una piyama de rayas blancas y azules, ideal para dormir con peluche13
(Villoro 2010: 64–65).
Es schließen sich Beschreibungen von Schuhen, von eilends angezogenen
Pantoffeln an. Ein deutscher Tourist taucht mit einer Stirnlampe auf – ausgerüstet
für alle Fälle (65). Dergestalt finden sich die unterschiedlichsten Typen in der
Lobby zusammen.
Der Pyjama wird uns im Epilog der Chronik wieder begegnen und so gleichsam
eine Klammer von Anfang und Ende bilden. Längst in Mexiko zurück, bleibt das
Bild der Pyjamas auf engste verknüpft mit der Erinnerung an das Erdbeben. Im
12 Das Bild eines Riesen im Pyjama versprach mir Schutz. 1985 veränderte sich meine Beziehung
zu den Beben für immer. Seitdem können alle Dinge zufällig zu Seismographen werden. […]
Wenn sich das Wasser im Glas bewegt, frage ich mich, ob dies die Erde verschuldet hat oder
einfach ich.
13 Nach und nach gewann die Realität wieder an Klarheit. Mich erstaunte, dass viele Menschen
Schlafanzüge trugen. Ich sah Baumwollnachthemden, elegante Bekleidungen mit Monogramm,
einen seidenen Morgenrock. Mein Favorit war der Pyjama von Laura Lecuona von den Ediciones
Infantiles von SM in Mexiko. Es war ein weiß-blau gestreifter Pyjama, ideal um mit einem Stofftier
im Arm zu schlafen.
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Zentrum des Bildes steht Laura Lecuano im blau-weißgestreiften Schlafanzug, die,
so Villoro, wie eine Märchenfee mit unglaublichen Kräften versehen scheint. Laura
schickt ihm ein Päckchen mit Kinderbüchern und, eingepackt in rotes Papier, einen
Schlafanzug. Damit schließt sich der Kreis des Pyjamas.
Wie können wir das Pyjama-Motiv deuten? Der Pyjama stellt eine Metonymie des
Bebens dar, das die Menschen im Schlaf überraschte. Die Bekleidung, mit der sich
die nachts aufgeweckten Hotelgäste schnell nach unten flüchten, ist gleichsam ein
Zeichen von Intimität. Im öffentlichen Raum wirken die Schlafanzugträger
schutzlos und verletzlich, der öffentlich getragene Schlafanzug steht sinnbildlich
für Scham und Blöße. All dies verschwindet in der Situation der Angst und des
Schreckens. Die vom Beben aufgeweckten Menschen haben keine Zeit an ihre
Bekleidung zu denken, sie gelangen direkt aus dem Bett in die Lobby. Dadurch
wird der eigentlich öffentliche Raum der Lobby zu einem intimen Raum, in dem
die nur notdürftig bekleideten Menschen durch das gemeinsame Erlebnis zu einer
neuen Gemeinschaft zusammenfinden. Die Dinge des Alltags erhalten im Kontext
der Katastrophe eine neue Bedeutung. Nicht nur die Lobby verliert ihren
Charakter des prinzipiell öffentlichen Raums, auch das Motiv des Schlafanzugs
oszilliert zwischen Schutzlosigkeit (Fehlen von Intimität) und dem Schutz (in der
schlafanzugtragenden Gemeinschaft). Das Geschenk des Schlafanzugs bekräftigt
einen Pakt, eine Verbindung, die durch das gemeinsam Erlebte und gemeinsam
Überstandene geschaffen wurde.
6. Die Testimonios
Wenn wir mit Zárate (2013) das Kapitel „Sabor de la muerte“ als Zentrum der
Chronik begreifen, dann wird dieses Zentrum umkreist von den parallel
konstruierten Kapiteln „‘Aquí hay temblores, ¿No?‘. Premoniciones“ (37-52) und
„‘Estoy acá.‘ ‚¿Acá dónde?‘. Replicas“ (91-126). Auf der Ebene der Chronologie gibt
es ein Vor und ein Nach dem Beben, gleichzeitig scheinen Kapitel 3 und Kapitel 7
aber durch eine strukturelle Äquivalenzbeziehung verbunden, ebenso wie Prolog
und Epilog durch das Motiv des Pyjamas korrespondieren.
Obwohl zwischen das zentrale Kapitel 5 und die beiden Testimonio-Kapitel jeweils
ein Abschnitt zwischengeschaltet ist, stellen sie doch deutlich ein Vorher
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(„premoniciones“) und ein Nachher („replicas“) des Bebens dar. Geklammert
werden sie durch die deiktischen Ausdrücke, die ein nahes Hier und ein weniger
nahes Hier bedeuten („aquí“ und „acá“) sowie die jeweils eingesetzte direkte Rede.
Beide Abschnitte vereinen Zeugnisse unterschiedlichster Art und sehr unterschiedlicher
Personen.
Das 3. Kapitel „’Aquí hay temblores, ¿No?’. Premoniciones“ stellt Berichte von
Vorahnungen zusammen, die auf das Erdbeben verweisen: Laura Hernández
beobachtet einen ‘verstümmelten’ Mond („luna mocha“, 39). Er gefällt ihr nicht,
aber sie weiß ihn nicht zu deuten. Sie packt ihre Sachen und wartet auf das, was
passieren wird (39-41).
Daniel stolpert am 26.2. in ein Loch im Boden – und stellte fest: „Aquí hay
temblores, ¿No?“ („Hier gibt es Erdbeben, oder?“, 45).
Gloria Hernández bemerkt ebenfalls den sonderbaren Mond (46), doch sie
empfindet ihn als wunderbar („hermosa“, 46). Fabián Skármeta, Sohn des Schriftstellers
Antonio Skármeta, fühlt eine seltsame Unruhe, er hört das Flattern der
Vögel im Garten, er schaut auf das Schwimmbecken und sieht das Wasser nach
draußen spritzen (47). Julián besitzt einen Hamster, nachts läuft dieser im Rad. In
der Nacht zum 27.2. stoppt das Geräusch, der Hamster versucht ein Loch zu
graben, als wolle er fliehen. Der Hamster ist zu einem Maulwurf geworden, denkt
der Junge, bevor sich der Boden unter seinen Füssen zu bewegen beginnt (51–52).
Versprengte Eindrücke, Vorahnungen, Beobachtungen, die schließlich wie bei
Fabián und Julián im Beginn des Erdbebens (das Spritzen des Wassers und das
Beben des Bodens) münden.
Berichte von Vorahnungen gehören in der Beschreibung von erlebten
Katastrophen zu einem etablierten Muster. Unfassbares wird durch die Geschichten
von Vorahnungen in einen Sinnzusammenhang gestellt.14 Doch im Falle der
14 Legendär sind die Vorzeichen, von denen die Azteken im Vorfeld der Conquista berichten.
Der Franziskanermönch Bernardino de Sahagún beschreibt die „Señales y pronósticos que
aparecieron antes que los españoles veniesen a esta tierra ni huviese noticia de ellos“ (Zeichen
und Prophezeiungen, die erschienen, bevor die Spanier in dieses Land kamen und es noch keine
Kenntnis von diesen gab) in seiner um 1575 fertig gestellten Historia general de las cosas de la Nueva
España (1990: 950). Der mit der Eroberung durch die Spanier verbundene Untergang des Azteken-
Reichs wird in diesen Prophezeiungen a posteriori verstehbar, er erhält eine Deutung als etwas
Unvermeidbares.
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drei Testimonios, die Vorahnungen thematisieren, zeigen sich ganz unterschiedliche
Deutungsansätze: Auf den Mond bezogen haben wir zwei widersprüchliche
Deutungen, die je mit dem unterschiedlichen emotionalen Empfinden angesichts
des sonderbaren Erdtrabanten zu tun haben: verstümmelt oder wunderbar, Gefahr
oder Entspannung. Im Fall von Daniel, der in ein Loch stolpert, wird die Referenz
auf Erdbeben ironisiert. Villoro präsentiert die Vorahnungen, ohne sie zu
hierarchisieren. Die Perspektive der Menschen auf den Vorabend der Ereignisse
wird in ihrer Unterschiedlichkeit stehen gelassen: Wenn der Mond in Laura das
ungute Gefühl provoziert, dass etwas passieren werde (ohne dass sie hätte sagen
können was), so bemerkt Gloria Hernández ebenfalls den besonderen Mond, der
ihr jedoch ein positives Gefühl vermittelt. Die Besonderheit des Mondes wird je
unterschiedlich gedeutet, Sinnhaftigkeit gesucht oder negiert – die Vielstimmigkeit
menschlicher Wahrnehmungen und Zeugnisse wird orchestriert.
Das Kapitel „‘Estoy acá.‘¿Acá dónde?‘ Replicas“ vereint Erlebnisse der Menschen
während des Bebens ebenfalls im Stile eines polyphonen Erzählens und häufig mit
Ironie versehen, die den Schrecken auf Distanz hält.
Was erleben die Menschen während des Bebens, was denken sie, wie reagieren
sie?
Daniel Goldín ruft seine Frau in Mexiko an, um sie zu beruhigen; als die Wand
aufreißt, stellt er fest, dass es sich um mehr als nur ein kleines Beben handelt (93–
94). Der Beamte des brasilianischen Kultusministeriums wird von einem heftigen
Stoß aus dem Schlaf gerissen; in Erinnerung an ein Handbuch zum Verhalten bei
Katastrophen geht er ins Bad und legt sich in die Wanne. Als die Fliesen von der
Wand fallen, stellt er fest, dass er sich in der Katastrophe getäuscht hatte – der
Rückzug in die Badewanne war die Verhaltensregel für das Überleben eines
Zyklons (94–95).
Der Taxifahrer Patricio Rojas holt ein Pärchen ab; als er es zu Hause absetzen will,
beginnt das Taxi stark zu schwanken. Peinlich irritiert blickt er nach hinten und
begreift, dass die Erde bebt (97). Dem Schrecken wird ein bitteres Lächeln
abgerungen.
Das Kapitel stellt nicht allein verschiedene Stimmen zusammen, sondern auch
unterschiedliche Medien: Auszüge aus dem später veröffentlichten Text von Laura
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Hernández „Vivir un terremoto“ (Ein Erdbeben erleben), aus dem Zeitungsbericht
der Guatemaltekin Gloria Hernández, der in El Periódico de Guatemala publiziert
wurde, SMS als Express-Literatur („literatura exprés“, 111), die Sonía und Cecilia
austauschen und die über Twitter verschickten Nachrichten des Mexikaners
Francisco Hinojosa, die Zeugnis des unmittelbar Erlebten und des Gefühlten
ablegen, wie etwa von der zunehmenden Enttäuschung der Mexikaner, die im
Gegensatz zu Angehörigen anderer Nationen von ihrer Regierung nicht evakuiert
werden. Frustrierter Schluss am 2. März einer Twitter-Nachricht: „¿Con quién
enojarse? Sólo sé que no con la Tierra.“ (8.01 p.m. Mar 2)15, (123). In einem Blog von
Marcelo Filgueras taucht das Bild der bebenden Erde auf, die das Haus der
Großmutter zerstört, „para recordarnos la fragilidad“ (um uns der Zerbrechlichkeit
zu erinnern, 126).16 Villoro greift das Bild der Großmutter auf, erinnert sich
der seinen, die in Krisensituationen Teller zu Boden warf. Vielleicht, so die
augenzwinkernde Überlegung, ist die bebende Erde nichts anderes als eine
wütende Großmutter: „Un país, a fin de cuentas, no es otra cosa que una legendaria
fuerza emotiva, una abuela transcendental que de pronto nos recuerda quién
manda en la casa, y rompe los platos”17 (126).
Die Anthropomorphisierung der Erde verweist in beiden Textpassagen in je unterschiedliche
Richtungen: Figueras spricht die Erde von jeder Schuldigkeit frei und
klagt die politische Verantwortlichen an, die den Erdbebengeschädigten nicht
helfen. In der Imagination der bebenden Erde als wütende Großmutter agiert die
Erde selbst, wobei das Beben im Bild des momentanen Wutausbruchs familiarisiert
und entdramatisiert wird.
15 Über wen sollte man sich ärgern? Ich weiß nur, dass es nicht die Erde ist (8.01h, 2. März).
16 Figueras bezieht sich hier auf ein Testimonio von Andrea Maturana.
17 Letztlich ist ein Land nichts anderes als eine legendäre gefühlsgeladene Kraft, eine transzendentale
Großmutter, die uns plötzlich tellerzerschlagend daran erinnert, wer das Sagen im
Haus hat.
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7. Die Lobby – ein unentrinnbarer Zufluchtsort
Den unmittelbaren Eindrücken des Bebens folgen die Replicas – Nachbeben, aber
auch Reaktionen – denn genau auf diese Doppelbedeutung von “Nachbeben“ und
“Reaktionen“ zielt das Wort in diesem Kapitel ab. „Las réplicas más fuertes de un
sismo son psicológicas” (Die stärksten Nachbeben sind die psychischen, 22). Doch
wie ist die Nähe des Todes beschrieben, die zu den psychischen ‘Nachbeben‘ führt?
Unter dem Titel „El sabor de la muerte“ beschreibt Villoro das Leben in der Hotel-
Lobby. Zárate betrachtet dieses Kapitel als das Zentrum der Ereignisse aber auch
den Punkt, von dem aus die Chronik organisiert ist (2013: 99) – vielleicht
korrespondiert dieses Zentrum auf der strukturellen Ebene mit dem Epizentrum
eines Erdbebens. Denn wenn wir mit Marabito (2011: 95) Villoros Stil als
‘Erdbeben-Stil‘ begreifen, wäre zu fragen, ob dieses ‘Erdbebenschreiben‘ nicht
auch den Aufbau der Chronik erfasst.
In dieser metaphorischen Lesart wäre das Kapitel „El sabor de la muerte“, das die
Nähe des Todes mit dem Leben in der Hotel-Lobby korreliert, gleichsam das
Epizentrum, um das herum sich in immer weiter windenden Kreisen der Rest des
Buches organisiert: Einen Kreis würden die beiden parallel organisierten
Testimonio-Kapitel („¿Aquí hay temblores? ¿No?“ und „‘Estoy acá.‘ ‚¿Acá donde?“)
bilden, den äußeren Zirkel Prolog und Epilog.
Inwiefern reflektiert dieses Kapitel aber die Nähe des Todes? Paradoxerweise
beschreibt es doch gerade das Überleben der Hotelgäste, denn die von Villoro in
Anlehnung an Buñuels Film El ángel exterminador (Der Würgeengel), der den
Arbeitstitel Los naufragos de la calle Providencia trug (70), Naufragos genannten
Hotelgäste flüchten sich nach dem Beben in die Lobby. Doch wie die Figuren in
Buñuels Film können sie das Haus nicht (dauerhaft) verlassen, obwohl die Türen
offenstehen. Der Flughafen ist geschlossen, die Menschen sitzen fest. Die Lobby
wird dergestalt zu einem liminalen Ort, einem Schwellenort zwischen Katastrophe
und deren Überwindung.
In der Lobby ordnet man sich schnell nach nationalen Gruppen, nach tribus –
Mexikaner, Argentinier, Brasilianer, Spanier, jede Gruppe hat ihre eigene
Perzeption und entwickelt ihre je eigene Strategie im Umgang mit dem Erdbeben;
schnell entstehen nationale Muster.
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Selbstredend fühlen sich die Mexikaner als Experten für Erdbeben, ihrer Ansicht
nach ist Santiago ein Trümmerhaufen, denn Mexiko war nach 8.1 Magnituden 1985
gänzlich ruiniert: „El terremoto de México fue de 8.1 pero devastó el Distrito
Federal por la irresponsabilidad de los constructores y por las condiciones del
subsuelo, cuya persistencia memoria recuerda que allí existió un lago”18 (61). Und
weiter unten heißt es:
Los mexicanos repasamos cataclismos anteriores y supusimos que la
ciudad estaba devastada:
-Aquí hubo doscientos mil muertos –dijo Daniel Goldin.
La cifra nos pareció lógica.
En la mente de los mexicanos se combinan el temor atávico a los
terremotos y la convicción de que los edificios están mal construidos19
(62–63).
Doch zur Verwunderung der Mexikaner – und ganz ihrer eigenen Rolle als
Erdbebenexperten zuwiderlaufend – hielt die chilenische Architektur, zumindest
die neueren Gebäude, dem Beben stand. Für die Mexikaner ist die chilenische
Architektur eine Art Wunder („la arquitectura chilena es una forma del milagro”,
66) und Zeichen von Ehrenhaftigkeit („Los terremotos son inspectores de la
honestidad arquitectónica”, 67). Als eines der wenigen neueren Gebäude hat
ausgerechnet der Flughafen großen Schaden genommen, die Kongressteilnehmer
sitzen in Chile fest.
In der Tat sind die chilenischen Hochhäuser nach japanischem Modell erdbebensicher
mit flexiblem Fundament gebaut. Die Besonderheit der Bauweise bildet
ein konstantes Thema der Chronik, dabei wird insbesondere die Problematik
der Immobilienspekulation und der Korruption in Mexiko adressiert: „En 1985, el
sismo de la ciudad de México demostró que la especulación inmobiliaria y la
18 Das Erdbeben von Mexiko betrug eine Stärke von 8.1, aber wegen der Unverantwortlichkeit
der Bauträger und der besonderen Bedingungen des Untergrunds, der uns beharrlich daran
erinnert, dass es hier einen See gab, verwüstete es die Stadt.
19 Wir Mexikaner erinnerten uns früherer Erdbeben und wussten bestimmt, dass die Stadt
verwüstet war:
„Hier gab es 200.000 Tote“, sagte Daniel Goldin.
Die Zahl erschien uns logisch.
Im Denken der Mexikaner vereinen sich eine atavistische Angst vor den Erdbeben und die
Gewissheit, dass die Gebäude schlecht gebaut sind.
Wehrheim: Eine Chronik in Fragmenten - Juan Villoros 8.8
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amañada construcción de edificios públicos eran más dañinas que los grados
Richter”20 (67).21
Die Mexikaner in der Lobby erleben also vor allem ein Wiedererkennen, aber auch
eine Differenz. Gleichzeitig erfahren sie, dass das Gebäude, in dem der Kinderbuchkongress
stattfand, eingestürzt ist. Der Geschmack des Todes – ganz in der
Nähe.
Die Beschreibung der „conducta tribal“ (Stammesverhalten, 62) entbehrt nicht des
für Villoro typischen trockenen Humors: Der Brasilianer mit Tanga-Hose (102), der
Deutsche mit Leuchte am Kopf (65), die Argentinier demonstrieren Coolness und
durchleben ihre eigene Form von Schock, als der Mate ausgeht (104, 115). Es
scheint, als würden die Menschen in Krisensituationen in ihren nationaltypischen
Verhaltensweisen Sicherheit finden und die gängigen nationalen Klischees
bedienen.
Die Zuflucht in althergebrachte Verhaltensmuster zeigt sich auch in der
Bedeutung, die der Aberglauben spielt: „La superstición era la ciencia del
momento“ (Der Aberglauben war die Wissenschaft der Gegenwart, 64) –
zweifellos ein typisches Element eines Krisennarrativs. Genaue Beobachtungen
der Moái-Statur von den Osterinseln, die vom Beben unbeschadet in der Lobby
steht, versprechen Auskunft über mögliche Nachbeben. Gleichzeit wird sie zum
Symbol eines magischen Schutzes. Man beruhigt sich, als sich in der Mitte der
Lobby ein Hund friedlich schlafen legt. Den „Aftershock“ (68) stellt der
geschlossene Flughafen dar und die Unmöglichkeit das Land zu verlassen.22
Bald ist die Lobby nicht allein ein Ort des Treffens der Naufragos – die Lobby ist
auch der Ort des Informationsaustauschs. Geschichten kursieren, die TV-
20 1985 zeigte das Erdbeben in Mexiko-Stadt, dass die Immobilienspekulation und die
manipulierte Konstruktion öffentlicher Gebäude mehr Schaden anrichten als Grade auf der
Richterskala.
21 Für die Mexikaner ist die ‘Unehrenhaftigkeit‘ der Architektur 2017 erneut auf dramatische Art
bestätigt worden, 19 Kinder fanden in einer eingestürzten Schule in Mexiko-Stadt den Tod, auch
hier wurden Korruption und eine nicht genehmigte Gebäude-Aufstockung als Ursachen
angenommen, siehe Camhaji in El País vom 25.9.2017.
22 Am 4. März können die Mexikaner endlich mit einem regulären Flug von Aeroméxico das
Land verlassen – vier Tage später als der reguläre Rückflug mit LAN angesetzt war (71).
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Nachrichten überbringen Schreckensmeldungen: schwere Einzelschicksale, Bilder
von Zerstörung und Plünderungen, von Überfällen auf Supermärkte (78). Die
Bürgermeisterin des von einem Tsunami schwer zerstörten Concepción ruft nach
dem Einsatz des Militärs. Die Medien vermitteln ein fragmentarisches Bild,
schüren Angst und Panik, das Erdbeben wird zum Element der Konfrontation
zwischen Michelle Bachelet, deren Präsidentschaft zu Ende geht, und ihrem
Nachfolger und politischen Gegner Sebastián Piñera aufgebauscht (74). An dieser
Stelle positioniert sich Villoro: Das Klima der Angst korrespondiere nicht mit der
von ihm real erlebten Situation, die viele positive Geschichten bietet. Die eigentliche
Katastrophe spielt sich nicht in Santiago, sondern südlich der Hauptstadt ab,
wo (damaligen Informationen zufolge) 800 Menschen in einem Tsunami starben
(76). Die Naufragos in der Lobby beschließen den Fernseher auszuschalten.
Die Lobby bildet den Ausgangspunkt vieler Erzählungen, persönlicher Testimonios,
die den Horrorberichten des Fernsehens nicht entsprechen. Sie bildet den
Gegenort des Chaos, das der Fernseher transportiert und inszeniert (Zárate 2013:
99). Wie häufig in Villoros Chroniken fungieren auch hier die Testimonios als
Gegendiskurs zur offiziellen Geschichte, die eine Geschichte des medial inszenierten
Schreckens ist.23 Die Lobby mit ihren unterschiedlichen Testimonios wird zum
Gegenort der nationalen und offiziellen Fernsehberichte, sie wird zum Ort, von wo
aus sich eine neue kollektive Erinnerung der Überlebenden herausbildet.
8. Der Titel 8.8: El miedo en el espejo
Kommen wir am Ende noch einmal auf das Zitat des Anfangs zurück, in dem
Villoro davon spricht, dass nur ein fragmentarischer Text sich soweit wie möglich
an die Ereignisse annähern kann: „Lo que el miedo destruye no se recupera en
forma integral. Ésta es una crónica en fragmentos”24 (23).
Das Fragmentarische der Struktur und die Polyphonie des Erzählens sind
Ausdruck der Unmöglichkeit die Angst in Gänze, in ihrer „forma integral” zu
23 Zur Gegenüberstellung von nationaler Geschichte und Testimonios siehe Iván Pérez (2013), der
dieses Thema am Beispiel von Villoros Chronik Tiempo transcurrido (1986) entwickelt.
24 Was die Angst zerstört, gewinnt man nicht wirklich [integral] zurück. Dies ist eine Chronik in
Fragmenten.
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fassen und darzustellen. Der Begriff der „forma integral“ referiert auf Agambens
Konzept des „wirklichen Zeugen“, das von Villoro selbst explizit aufgerufen wird:
En opinión de Agamben, sólo quien conoce el horror hasta sus últimas
consecuencias califica como testigo integral. Llegar a esta zona es
imposible. El cometido de la crónica, por tanto, consiste en acercarse lo
más posible a lo que no puede ser dicho25 (24).
Die Annäherung an das Nicht-Sagbare versucht Villoro durch die heterogene
Textstruktur zu ermöglichen, in der verschiedene Stimmen zum Ausdruck
kommen. Auf diesen Gedanken einer Spur ohne finale Präsenz im Sinne Derridas
spielt zweifellos auch der Titel an, den Villoro wie folgt erklärt:
Como el rescatista que escribe su nombre en varias partes del cuerpo
para ser reconocido en trozos, este libro repite una misma cifra. Los
números gemelos tienen el don de volverse irregulares: 8.8, el miedo se
asoma en el espejo26 (24–25).
Und später heißt es:
En su duplicidad, la cifra 8.8. adquiere carga simbólica: los gemelos del
miedo, el diablo ante el espejo o, sencillamente, lo que somos y lo que
podemos dejar de ser27 (79).
Die Angst zeigt sich in der gedoppelten Acht, die Angst zeigt sich im Spiegel, aber
die Angst im Spiegel ist auch nie ganz fassbar, sie lässt nur den Schrecken einen
Moment lang erblicken. Die Zwillingsachten im Spiegel entwickeln sich zu einer
mise en abyme, sie verweisen auf Spiegelungen und Doppelungen und führen nie
zu einer letzten Präsenz. Denn diese letzte Erfahrung ist (ganz im Sinne
Agambens) nicht vermittelbar.
25 Nach Agamben kann nur derjenige, der den Horror bis zur letzten Konsequenz kennt, als
wirklicher [integral] Zeuge gelten. In diesen Bereich vorzudringen, ist unmöglich. Somit besteht
die Aufgabe der Chronik sich dem, was nicht gesagt werden kann, soweit wie möglich zu nähern.
26 Wie der Rettungshelfer, der sich seinen Namen auf die unterschiedlichsten Stellen des Körpers
schreibt, um selbst noch in Stücke zerteilt wiedererkannt zu werden, wiederholt dieses Buch eine
Ziffer. Die Zwillingszahlen haben die Eigenschaft unregelmäßig zu werden: 8.8. die Angst zeigt
sich im Spiegel.
27 In ihrer Doppelung erhält die Zahl 8.8. einen symbolischen Wert: die Zwillinge der Angst, der
Teufel vor dem Spiegel oder schlichtweg das, was wir sind und was wir aufhören können zu sein.
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