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Der Untergang von Atlantis als Ursprungsmythos der
Dichtung: die Sinnzuweisung an die Katastrophe in Jacint
Verdaguers L'Atlàntida (1886)
Roger Friedlein, Ruhr-Universität Bochum (roger.friedlein@rub.de)
Abstract
Jacint Verdaguer führt 1877 mit der ersten Version seines Epos L'Atlàntida (dt. Atlantis 1897)
die katalanische Sprache zurück in den Kreis der Sprachen für gelehrte Literatur (endgültige
Version 1886). Im Zentrum des Gedichts steht eine Neuerzählung des platonischen
Atlantismythos aus hispanischer Sicht. Der Untergang von Atlantis und der Tod seiner
mythologischen Bewohner, dem nur die von Herkules gerettete Hesperis entkommt, bedeuten
bei Verdaguer nicht allein eine göttliche Strafe planetaren Ausmaßes für die sündhaften
Atlanten. Als geologische Nachwirkung entsteht der Atlantische Ozean und im Mittelmeer
erscheinen die griechischen Inseln. Herkules und Hesperis besiedeln zudem die Iberische
Halbinsel neu. In der Rahmenerzählung des Gedichts fühlt sich Christoph Kolumbus durch
die Erzählung der Katastrophe angeregt zu seiner Reise, welche die Folgen der göttlichen
Sündenstrafe wieder wettmachen soll. In diesem Artikel werden die Prinzipien der
literarischen Ästhetisierung der Katastrophe untersucht, wie sie nur in biblischen und
mythologischen Sprechkontexten denkbar sind, sowie die spezielle ideologische und
raumtheoretische Ausrichtung, die der Atlantismythos bei Verdaguer erfährt.
With his epic L’Atlàntida (1877), Jacint Verdaguer brings the Catalan language back among the
languages for literature of erudition. The poem is focused on a new version of the Platonic
myth of Atlantis from a Hispanic point of view. The end of Atlantis, which only Hesperis,
saved by Hercules, will survive, does not only mean a divine punishment of planetary
dimensions for the sinful Atlants. The Atlantic Ocean comes to existence, the Greek isles surge
to the surface of the Mediterranean, and Hercules and Hesperis repopulate the Iberian
Peninsula. In the frame narrative of the poem Christopher Columbus feels inspired for his
journey by the tale of the cataclysm, and shall repair the consequences of the divine
punishment. This paper analyses the literary aesthetics of the catastrophe, as can be found
only in biblical and mythological speech contexts, as well as the renewed ideological
orientation given to the myth by Verdaguer.
1. Einleitung
Im Jahr 1876 bringt Jacint Verdaguer die erste Version seines in der
katalanischen Literatur Epoche machenden epischen Gedichts L'Atlàntida (dt.
Atlantis, übers. von Clara Commer, 1897)1 an die Öffentlichkeit. Verdaguer führt
1 Die heutige Referenzausgabe des Textes ist die Edition von Pere Farrés in den Obres
completes (Verdaguer 2002), in deren Einführung auch die Editionsgeschichte und Verdaguers
Quellen entfaltet werden. Verdaguer hatte mit dem Epos 1876 zunächst auf den Jocs florals
von Barcelona triumphiert, woraufhin es 1877 die ersten beiden Editionen erfuhr. Im Jahre
1886 erschien die heute kanonische Version, auf der die kritische Edition beruht.
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mit diesem Text – ähnlich wie es Frederic Mistral zuvor für das provenzalische
Okzitanisch getan hatte –, die katalanische Sprache in fulminanter Weise wieder
in den Kreis der Sprachen für gelehrte Literatur zurück, in den sie bis in die
frühe Neuzeit hinein gehört hatte. Im Zentrum des Epos steht eine Neuerzählung
des platonischen Atlantis-Mythos aus hispanischer Sicht. Der Untergang
von Atlantis und der Tod seiner mythologischen Bewohner bedeuten in
Verdaguers Gedicht nicht allein eine Katastrophe kontinentalen Ausmaßes und
eine göttliche Strafe für die sündhaften Atlanten. Auf die Bildfläche tritt zudem
auch ein Held, der gewöhnlich nicht zum Atlantismythos gehört: Herkules. Er
errettet aus dem in den Fluten untergehenden Lande Atlantis die Königsgattin
Hesperis. Zu den geologischen Nachwirkungen seines Handelns als ein
strafendes Werkzeug Gottes gehört es, dass die heute bekannten Kontinente
voneinander getrennt werden und zudem die griechischen Inseln sich aus den
Wassern erheben. Zudem verbinden sich Herkules und Hesperis als ein Paar
und begründen die Völker der Iberischen Halbinsel. Schließlich gehört auch
Amerika zum Szenario: Es rückt durch die Katastrophe des Untergangs von
Atlantis in der mythischen Zeit für die Alte Welt in eine unerreichbare,
transozeanische Ferne. Dieses Amerika wird später der Figur des Christoph
Kolumbus bedürfen, der in der Rahmenhandlung des Gedichts erscheint. Ihm
wird intradiegetisch der Atlantis-Mythos von einem Eremiten erzählt, und dies
gibt dem Seefahrer den Impuls, seine Reise aufzunehmen und mit ihr die Folgen
der göttlichen Sündenstrafe wieder aufzuheben. Kolumbus wird damit
potenziell zur heilsbringenden Figur, und aus dem mythischen Initialereignis
des atlantischen Bebens erwächst im historischen Zeitalter die hispanische Welt
der Neuzeit.
Der biblischen Sintflut vergleichbar bedeutet damit auch Jacint Verdaguers
atlantische Katastrophe einen Neuanfang und erwirkt eine Neubevölkerung; in
diesem Falle der Iberischen Halbinsel. Die schier unermessliche Bedeutung –
für die Geologie, für Spanien, für das Heil der Menschheit –, die dem Untergang
von Atlantis zugeschrieben wird, bringt zugleich eine literarische Ästhetisierung
der Katastrophe mit sich, wie sie nur in biblischen und mythologischen
Sprechkontexten denkbar ist. Die Eigenarten dieser speziell mythologischen Art
des Sprechens über Katastrophen werden einen Hauptteil der folgenden
Überlegungen ausmachen; Verdaguers spezielle Wertung der Dinge einen
weiteren. Ihnen soll jedoch zunächst eine Vorbemerkung vorangestellt sein, die
Verdaguers Gedicht als episches Gedicht einordnet.
Friedlein: Der Untergang von Atlantis
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2. Epos und Naturkatastrophe
Die Naturkatastrophe, die im Mittelpunkt von Jacint Verdaguers epischem
Gedicht steht, der Untergang der Insel Atlantis, hat ihre älteste Überlieferung
in den Erzählungen des Kritias in zwei platonischen Dialogen. Die Insel habe
unter der Herrschaft des Atlas (und seines Bruders Gadir), Söhne des Poseidon
und der Klito, gestanden.2 Im üblichen Verständnis ging sie deshalb unter, weil
Zeus als Strafe für den Hochmut der Atlanten ein Erdbeben bzw. Seebeben
geschehen lässt, in dessen Folge ein Tsunami die Insel für immer unter sich
begräbt. Bei Plato ist das eigentliche Untergangsgeschehen in einem einzigen
Satz resümiert, der die genauen Umstände offen lässt. Geschehen sei es angeblich
9.000 Jahre vor der Erzählung, also vielleicht etwa 9.500 Jahre v.u.Z.
Zweifellos handelte es sich für die in der Erzählung betroffenen Atlanten um
die schlimmstmögliche Katastrophe und zudem ein Ereignis planetaren
Ausmaßes. Damit ist die Anforderung der Grandiosität und der kollektiven
Relevanz des Stoffes, wie er in der klassischen Epik zumeist gesetzt ist, durch
diese Katastrophe zweifellos erfüllt. Dennoch wurde der platonische
Atlantismythos vor Verdaguer üblicherweise nicht in der Form epischer
Gedichte literarisch bearbeitet. Dies könnte verwundern, denn bekanntlich
werden epische Gedichte bis weit in das 19. Jhd. hinein zusammen mit der
Tragödie als die prestigereichste Textgattung verstanden, und nicht allein in
den romanischen Literaturen entstehen sie in großer Zahl. Dennoch hat vor
Jacint Verdaguer der Atlantisstoff anscheinend keinen Eingang in die Epik
gefunden, und überhaupt sind in epischer Dichtung zwar vernichtende Kriege
wie der trojanische als Thema zu finden, dagegen kaum aber Naturkatastrophen.
Ein peruanisches Gedicht des 17. Jahrhunderts in, wenn auch
bescheidener, epischer Länge über das Erdbeben von Lima erweist sich bei
näherem Hinsehen als eine gereimte historische Chronik (Pedro de Oña 1609).
Im Canto XIX des Epos El Bernardo (1624) aus der Feder des spanischen Dichters
Bernardo de Balbuena bricht die Höhle des Zauberers Tlascalán im alten
Mexiko in der Nähe eines Vulkans durch ein Erdbeben zusammen (Balbuena
2 Bei Platon findet sich eine einführende Vorstellung des Atlantismythos im Timaios, 24e-25d,
sowie eine ausführliche, aber nicht zu Ende geführte Beschreibung im Fragment des Kritias,
113b-121c. Der Sprecher ist in beiden Fällen Kritias. Zur daran anschließenden
Rezeptionsgeschichte des Atlantismythos (Bichler 2013), auch in der frühneuzeitlichen
Historiografie, vgl. Vidal-Naquet (2005) bzw. in der Literatur seit dem 19. Jahrhundert
Foucrier (2004).
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1852: 316); zudem kommen Seestürme, Windhosen und die daraus resultierenden
Schiffsuntergänge geradezu regelmäßig als Bestandteile epischer
Gedichte vor. Genauso regelmäßig nehmen sie aber nur eine Episode unter
vielen ein und bilden nicht den zentralen Stoff der Gedichte. Dies scheint daran
zu liegen, dass erstens das Epos3 prototypisch einen Helden in den Mittelpunkt
stellt, der sich durch seine Handlungsfähigkeit auszeichnet und gerade nicht
durch seinen Charakter als Opfer eines Unglücks. Zweitens behandeln Epen in
der abendländischen Tradition im Anschluss an die antiken Vorbilder bei
Homer und Vergil kollektiv relevante Gründungs- oder Findungsereignisse, die
in affirmativer Weise erzählt werden, wobei Ereignisse der Zerstörung – meist
als Auswirkung militärischer Eroberung – in die Texte eingehen, dies aber im
Hinblick auf die daran sich anschließende Neugründung. Paradigmatisch gilt
dies in den romanischen Literaturen selbstverständlich für den Untergang von
Troja und die Gründung von Rom in Vergils Aeneis. Der Untergang von Atlantis
hat nun in seiner bei Platon erzählten Form keinen Helden und bietet zunächst
auch keine Gründungs- oder Findungsgeste mit kollektivem Identifikationsangebot.
Er passt also zunächst nicht zur paradigmatischen Realisationsform
der epischen Gattung. Bei Verdaguer wird es nun trotzdem möglich, dass die
Katastrophe in den Mittelpunkt eines epischen Gedichtes tritt, indem der
Untergang von Atlantis mit Herkules einen Helden bekommt. Er bleibt auch im
Auge des Orkans handlungsfähig, und seine Geste ist die Rettung der Hesperis
aus dem untergehenden Atlantis und ihre gemeinsam eingeleitete Neubesiedlung
Hispaniens. Die Katastrophenerzählung tritt also in Verbindung mit einer
Heldenfigur und einer Gründungsgeste: So werden der Atlantis-Stoff und die
Katastrophe eposfähig.
3. Der Ablauf der Katastrophe
Bei der Erörterung der sprachlich-metaphorischen Fassung von Naturkatastrophen
eröffnet sich die Frage nach der Ideologie der Katastrophe, im
Sinne der Frage, welches Sinngebäude durch die Erzählung im Einzelnen
aufgebaut wird, die dem katastrophalen Unglück Sinn verleiht. Zu ihrer
Beantwortung muss zunächst die Geschichte nacherzählt werden, die
3 Im 19. Jahrhundert ist insbesondere in der Romania der Begriff poema èpic in seinen
einzelsprachlichen Varianten sehr viel weiter verbreitet als epopeia. Im vorliegenden
Zusammenhang werden beide Bezeichnungen als Synonyme verwendet.
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angesichts des überschaubaren Umfangs des Gedichtes eine sehr beachtliche
Ereignisdichte aufweist.
Verdaguers L’Atlàntida, eingeteilt in zehn Gesänge und einen Epilog, wird von
einer Rahmenhandlung im ersten und letzten Gesang umspannt: Nach einer
Seeschlacht zwischen Schiffen aus Genua und Venedig vor der südspanischportugiesischen
Atlantikküste wird ein Genuese von den Fluten an Land
gespült und von einem Eremiten gefunden: Es ist der noch junge Christoph
Kolumbus, dem der Eremit zu Hilfe kommt und ihn in seine persönliche
Marienkapelle bringt. Als wäre er der ‚Geist des Atlantik‘ – lo Geni de l’Atlàntic
– erzählt er dem schiffbrüchigen Genuesen daraufhin aus dem ‚Buch seiner
Erinnerung‘ die Geschichte, die im Anschluss an diesen Vorspann mit dem
ersten Gesang in mythischer Urzeit beginnt.
Im Atlantik liegt der paradiesische Kontinent der Hesperiden, von dem zur
Erzählzeit nur noch der Vulkanberg Teide übrig ist, der als Gipfel der Insel
Teneriffa aus dem Wasser ragt:
Veus eixa mar que abraça de pol a pol la terra?
En altre temps d’alegres Hespèrides fou hort;
encara el Teide gita bocins de sa desferra,
tot braolant, com monstre que vetlla un camp de mort (I,1)
Siehst du das Meer, das rings die Welt umgürtet?
Von einem Pol zum anderen reicht die Flut.
Einst war's der Garten der Hesperiden.
Die letzten Trümmer seiner Erbschaft speit
Der Teyde noch mit dumpfem Grollen aus,
Er wacht am Totenfeld als Ungeheuer.4
Dieser Kontinent verband die Alte Welt mit den Ländern im Westen wie eine
Brücke – Atlantis ist bei Verdaguer also wohlgemerkt keine Insel, sondern eine
kontinentale Landbrücke mit Anschlüssen an Europa, Afrika und an die Länder
im fernen Westen: Ein atlantischer Ozean ist somit noch nicht vorhanden,
sondern die Kontinente gehören zusammen. Die Geschichte, die der Eremit
Kolumbus erzählt, beginnt nicht unmittelbar in Atlantis, sondern in einer
4 Zitiert wird hier die zeitgenössische Übersetzung von Clara Commer (vgl. dazu Quintana
i Font 1981). Ihre Nachdichtung ist eine beachtliche stilistische Leistung; dennoch ist die
Wirkung der Lektüre eine andere als die von Verdaguers Original. Die im soziolinguistischen
und literaturhistorischen Kontext der Zeit stupende Lexik Verdaguers und seine stark
verdichtete Syntax gehen im Deutschen mit der veränderten Metrik und vergrößerten
Verszahl zwangsläufig verloren.
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mythischen Urzeit im späteren Spanien,5 als aus der libyschen Wüste der
dreiköpfige Gerion dorthin vordringt und der Pirene, Erbin des Throns von
Tubal,6 das Zepter und die Herrschaft Spaniens stiehlt und zudem die Pyrenäen
in Brand steckt. Die sterbende Pirene verspricht Herkules die Krone Spaniens,
wenn er sie und Tubal räche und den Eindringling Gerion besiege. Herkules
baut der Toten als Grabmal eine Verlängerung des Pyrenäenkamms bis an das
Mittelmeer, mithin also den Gebirgszug, an den sich heute Katalonien anlehnt.
Darüber hinaus nimmt Herkules die Herausforderung an, macht sich auf nach
Süden, Gerion hinterher, und verspricht am Montjuïc, dem heutigen Stadtberg
von Barcelona, dort später eine Stadt zu gründen (erster Gesang, L’incendi dels
Pirineus).
Bei Gerion angekommen, sucht dieser den Kampf mit Herkules zu vermeiden
und macht ihn stattdessen auf die verwitwete Königsgattin Hesperis
aufmerksam, die man mit Hilfe des Orangenzweigs aus dem Garten der
Hesperiden gewinnen könnte. Zwar versteht Herkules das Ablenkungsmanöver,
macht sich aber dennoch auf nach Atlantis zum Garten der
Hesperiden und tötet dort den Drachen, der sich um den Orangenbaum der
Hesperiden schlängelt. Die Hesperiden, sieben Töchter der Hesperis mit König
Atlas, lassen ihren Klagegesang erklingen, denn ihr Vater hatte ihnen den
bevorstehenden Untergang vor seinem Tode prophezeit (II. L'Hort de les
Hespèrides).
Die männlichen Geschwister der Hesperiden, die Atlanten, sind gänzlich
anders ausgefallen als ihre weiblichen Schwestern: Die Söhne des Atlas sind ein
sündhaft missratenes Gezücht, das sich im Palast von Neptun versammelt. Dort
ergreifen vier Atlanten das Wort zur Rede und berichten aus unterschiedlichen
Himmelsrichtungen von bösen Vorzeichen. So kommt der zweite erkennbar aus
den amerikanischen Tropen7 und berichtet von einem durch ihn selbst
5 Die Verwendung des Begriffs wäre selbstverständlich anachronistisch, wird aber auch von
Verdaguer selbst nicht immer vermieden und schließt mitunter das spätere Portugal mit ein.
Im Folgenden verwenden wir den Begriff gelegentlich metonymisch für die Iberische
Halbinsel in mythischer, vorrömischer Zeit.
6 Tubal, der Sohn Jafets und Enkel Noahs, hat Spanien nach der Sintflut angeblich neu
besiedelt. Verdaguer folgt hier einer in der frühneuzeitlichen Historiografie im Anschluss an
Annius von Viterbo häufig überlieferten Tradition.
7 Ohne explizit zu sagen, von wo er berichtet, verwendet der Atlant das Wort hamaca
(“Hängematte“).
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begangenen Kindsmord. Ein anderer kommt aus Thule. Als der vierte in die
Versammlung tritt, schleudert Gottvater einen Blitz aus dem Himmel hinab, der
dem Götterbild Neptuns den Kopf abschlägt. Dies ist das Startsignal für
Herkules, der in die Versammlung einbricht und die Atlanten niedermetzelt
(III. Els Atlants).
Nach seiner Tat erreicht Herkules ein göttlicher Funke und er pflanzt daraufhin
den erbeuteten Orangenzweig aus dem Garten der Hesperiden bei Gades
(heute Cádiz) in Andalusien ein – später wird daraus der neue Garten der
Hesperiden. Zuvor kommt es allerdings zu seiner wahrhaft tektonischen
Leistung: Gelenkt von einem hinter ihm stehenden Geiste schlägt er mit seiner
kontinentalen Keule den Bergkamm nieder, der Europa und Afrika zwischen
den beiden Gipfeln Calpe und Abila verbindet. In der Furche entsteht die
Meerenge, die heute nach Gibraltar benannt ist. Herkules weiß dabei kaum, wie
ihm geschieht, denn er ist in seinem Handeln ein Werkzeug des Racheengels
(l'Àngel exterminador), der seine Hand führt. Nach der fulminanten Tat ergreift
Gottvater selbst das Wort und äußert eine Vorhersehung, die besagt, dass die
Kontinente, die soeben als Strafe für die sündhaften Atlanten geteilt wurden,
durch die Enkel der Hesperis (also die späteren Spanier) einst wieder vereint
würden (IV. Gibraltar obert).
Nun materialisiert sich die endgültige Strafe für die Atlanten: Durch die neue
Meerenge ergießt sich das Mittelmeer in einer Großflutwelle hinaus auf die
atlantischen Lande, begräbt sie unter den Wassern und bildet dort den Ozean.
Während Mütter und Kinder ertrinken, bahnt sich Herkules durch die Fluten
den Weg zu Hesperis, mit einer Fackel in der Hand. Auch Hesperis ahnt, was
ihr bevorsteht und nimmt Abschied von ihren Kindern (V. La catarata).
Im sechsten Gesang tritt die tragisch zerrissene Hesperis in den Blickpunkt. Sie
klagt um ihr in der Katastrophe endgültig verlorenes früheres Leben: Während
einst Atlas die Gestirne besang, hatte sie ihn auf der Leier begleitet. Nach
seinem Tod waren ihre Söhne herangewachsen; diese hatten ihr den Inzest
angetragen, den sie – ihre Reinheit immer bewahrend – wortlos abgelehnt hatte.
Unter Schmerzen lässt Hesperis ihre Kinder, Hesperiden und Atlanten (oder
Titanen),8 hinter sich zurück und lässt sich von Herkules aus der Katastrophe
8 Verdaguer verwendet die Begriffe Atlanten (Söhne des Atlas) und Titanen (Angehörige des
Geschlechts der Titanen wie auch Atlas selbst) synonym für die männlichen Nachkommen der
Hesperis.
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retten. Die Titanen ergeben sich nicht in ihr Schicksal, sondern suchen einen
Turm zum Himmel hinauf zu errichten, von dem sie sich Rettung versprechen,
während Herkules mit Hesperis durch die Wellen davonstürmt. Als ihm die
Atlanten Felsbrocken hinterherwerfen, geht ein Blitz auf die Stadt Atlantis
herab (VI. Hesperis).
Der siebte Gesang nimmt eine genetische und formale Sonderstellung in
Verdaguers Gedicht ein.9 Durch die Entleerung des Mittelmeers in den Atlantik
sind mit dem sinkenden Wasserspiegel die griechischen Inseln zum Vorschein
gekommen. Sie sind personifiziert und tragen sieben Gesänge vor, in denen sie
sich selbst vorstellen: Delos, die Zykladen, die Echinaden, Morea (Peloponnes),
Sizilien, Lesbos und zuletzt als eine gewisse Ausnahme Tempe für das Tal des
Flusses Peneios. Als das ebenfalls personifizierte Griechenland (Grècia) den neu
Erschienenen mitteilt, Herkules habe die Ereignisse verursacht, wird er in den
Kreis der Götter aufgenommen. (VII. Chor d'illes gregues)
Währenddessen schreitet der eigentliche Untergang von Atlantis voran.
Monstren wie das Fabelwesen Minhocau dringen aus der Tiefe der
aufgebrochenen Erde nach oben, aber auch aus der Tiefe der afrikanischen
Wüste.10 Im Schlachtgemenge erschlägt Herkules nunmehr, wie am Anfang der
Erzählung versprochen, seinen Widersacher Gerion und besiegt zudem eine
ganze Reihe von Höllenbiestern, welche die afrikanische Wüste wie eine
Heuschreckenplage ausspeit. Zu ihnen gehören Antaios, die Harpyien und die
Amazonen, die sich schließlich in die Unterwelt zurückziehen (VIII.
L'enfonsament).
9 Die intradiegetisch eingefügten Lieder der personifizierten Inseln haben wie die später
folgende Ballade der Insel Mallorca eine von der Diegese abweichende metrische Form mit
kürzeren Versen, die sie als Gesang kennzeichnet. Ein abweichendes, eigenes Metrum weisen
in L’Atlàntida nur sehr wenige Passagen auf, darunter die primäre Diegese am Anfang und
Ende des Epos, in der sich Kolumbus und der Eremit begegnen. Die textgenetische
Sonderstellung des 7. Gesangs über die griechischen Inseln rührt aus der Tatsache, dass
Verdaguer die Episode erst in die überarbeitete Endversion von L’Atlàntida eingefügt hat,
während sie in der auf dem Wettbewerb der Jocs Florals de Barcelona (Verdaguer i Pajerols 2012)
eingereichten, früheren Version noch fehlten (Farrés in Verdaguer 2002: 21f.). Zur Genese des
Gedichts vgl. Casacuberta (1986) sowie zur Einführung in Verdaguer die Biografie von Ricard
Torrents (1995) und den Ausstellungskatalog Verdaguer, un geni poètic (Div. Aut. 2002), der
auch in spanischer Version vorliegt. Ein zentraler Beitrag zur Verdaguerforschung ist zudem
Molas (2014).
10 Pt.-bras. Minhocão, eine Figur aus der brasilianischen Folklore.
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Auch den sündenbeladenen Atlanten nützt der Rückzug in den von ihnen
erbauten Turm nichts. Gottvater lässt ihn einstürzen, als sie sich offen gegen ihn
auflehnen und den Himmel zu erstürmen versuchen. Der Racheengel besiegelt
ihren Fall, indem er mit seinem Schwert den Atlantischen Graben mit einem
Hieb in den Ozean haut, sodass die Atlanten zwischen den sich öffnenden
Wassern in die Hölle hinabfallen. Als sie dort begraben sind, erklingt ein
kosmischer Siegeshymnus und eine Sirene erscheint und bezähmt das tobende
Meer. Nach getaner Tat trifft der Racheengel auf seinem Rückweg gen Himmel
den Engel Spaniens auf dem Wege hinab zur Erde, und er übergibt ihm die
Weltenkrone. Am Ende der Katastrophe bleibt somit vom Lande Atlantis allein
der Teidegipfel, der als Insel Teneriffa aus den Wellen des jungen Ozeans
emporragt (IX. La torre dels titans).
Die eigentlichen Katastrophenereignisse sind damit an ihrem Ende angelangt
und die Erzählung kann sich ihrem Protagonistenpaar und deren Taten
zuwenden: Herkules erweckt Hesperis aus ihrem Schlummer und sie stimmt
ihr Klagelied und ihren Schwanengesang (cant de cisne) an, worauf sie verstirbt
und sich in einem Katasterismus zum Morgenstern Venus verwandelt. Sie
hinterlässt den mit Herkules gezeugten Nachkommen ihre Lyra, also das
Instrument, das sie aus Atlantis mitbrachte und an den neu erblühten
Orangenbaum hängt. Der verwitwete Herkules bricht darauf mit seinen Söhnen
Galacte, Luso, Zacinto, Baleu und Sardus auf, um den neuen Garten der
Hesperiden auf der Iberischen Halbinsel zu besiedeln. Unterwegs verbleiben
die Söhne jeweils in Galicien, Portugal, Valencia, auf den Balearen und in
Sardinien und richten sich dort ein. Besonders Baleu hat es seine neue Heimat
angetan, denn von Mallorca aus bezaubert ihn eine Stimme mit dem Singen der
„Balada de Mallorca“. Herkules selbst begründet schließlich, wie anfangs
versprochen, die Stadt Barcelona und errichtet in Hispalis (Sevilla) dem noch
unbekannten Gott einen Tempel. Schließlich fehlen auch nicht die beiden
Säulen an der Meerenge von Gibraltar mit der allbekannten Aufschrift „No més
enllà“ (non plus ultra)11 (X. La nova Hespèria).
Im Abschluss des Gedichts wird der narratologische Rahmen geschlossen und
die Aufmerksamkeit richtet sich zurück zu Kolumbus und dem Eremiten, der
ihm den Mythos erzählt. Vom Gehörten begeistert, träumt Kolumbus von der
11 Bekanntlich antwortet auf diese Grenzsetzung der Wappenspruch der spanischen
Habsburger Plus ultra.
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transatlantischen Welt hinter dem Horizont und es schließen sich die bekannten
Ereignisse an: Er stellt seine Reisepläne in Genua, in Venedig und Lissabon bei
João II. vor und bleibt damit erfolglos, bis Isabella von Kastilien in der
Alhambra anders reagiert. Da sie geträumt habe, eine Taube (katalanisch: colom)
habe ihr einen Ring entwendet und daraufhin ins westliche Meer fallen
gelassen, übergibt sie Kolumbus ihren Schmuck zur Ausrüstung seiner Schiffe.
König Ferdinand, Königin Isabella und Kolumbus (katalanisch: Colom)
erscheinen in einer Aureole, als Kolumbus aufbricht. Der alte Eremit, der die
Szene von einem Hügel aus beobachtet, kann nunmehr den Tod finden. Das
Gedicht endet mit dem im Katalanischen doppeldeutigen letzten Vers: „Vola,
Colom... ara ja puc morir!“ (Conclusió. Colom).12
Für den Verlauf der Katastrophe zeichnen sich in diesem Geschehen drei
Phasen ab: erstens die Vorphase mit der Prophezeiung und den Vorzeichen des
Untergangs an die Atlanten, zweitens die Hauptphase mit der Öffnung der
Meerenge zwischen Abila und Calpe, die Atlantis in den Fluten versenkt und
die Inseln Griechenlands erscheinen lässt, sowie drittens der Einsturz des
Turms der Atlanten durch den strafenden Blitz Gottes und der Schwertschlag
des Todesengels, der den Atlantischen Graben furcht und die Erdteile endgültig
voneinander trennt.
Im Nachgang dazu ereignen sich der Sieg des Herkules über die Höllenungeheuer
und afrikanischen Monstren, die Vereinigung des Herkules mit
Hesperis und die Besiedlung Iberiens durch die Herkuleiden. Der Aufbruch des
Kolumbus, um die Trennung der Kontinente wieder wettzumachen, bildet
kaum mehr als einen vervollständigenden, historischen Anhang dieses
Geschehens. Angesichts der Gewichtung der Teile und der Verteilung der
narrativen und oratorischen Spannung kann der Aufbruch zur Reise nicht als
triumphaler Höhepunkt der Handlung verstanden werden, wie es in der
zeitgenössischen Kolumbusepik üblich ist (Bremer 1992 und Farrés 1992a). In
der Hauptsache verbleibt der Fokus des Gedichtes in der mythischen Vorzeit.
Die drei Etappen der göttlichen Strafe machen dabei im Umfang ein Mehrfaches
desjenigen aus, was dem anschließenden Neuaufbau des Gartens der
Hesperiden zukommt. Der Dreischritt von Untergang, Neubegründung und
Aufbruch bildet mithin zwar einen weltgeschichtlichen Zyklus. Sein
12 „Flieg, Kolumbus [oder: Taube], […] und nun kann ich sterben!“
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darstellerischer Schwerpunkt liegt jedoch nicht auf der Schließung des Zyklus,
sondern auf den geotektonischen Katastrophenereignissen des Untergangs.
4. Fünf Darstellungsprinzipien
Bevor diese Beobachtungen zur Perspektive auf die Ereignisse und zur
Bewertung von Verdaguers Position weitergeführt werden und in eine speziell
für die Verdaguerforschung relevante These münden, sollen zunächst die
ästhetischen Darstellungsprinzipien dieses Textes benannt werden, um ihn
noch deutlicher in die Fragestellung dieses Bandes von metaphorik.de
einzubinden. Insgesamt umfasst das Epos seiner an Details überreichen
Handlung zum Trotz kaum 2000 Verse und erreicht in dieser Kondensierung
wenig mehr als die untere Grenze dessen, was gewöhnlich als epische
Dimension angesehen wird. Es liegt damit auf der Linie vieler, wenn auch
keineswegs aller Epen, die im Kontext der europäischen Romantik entstehen.
Da sich allerdings mindestens der dritte bis neunte Gesang von L’Atlàntida im
engeren Sinne mit der Beschreibung der katastrophischen Abläufe befassen,
findet sich in den weit über eintausend Versen dieser Gesänge beachtliches
Material für die Untersuchung der Versprachlichung von Katastrophen.
1.) Im Ganzen betrachtet wird daran zunächst auffällig, dass das katastrophische
Geschehen des Untergangs von Atlantis in allen seinen Phasen von
individualisierten Akteuren vollzogen wird. Zunächst wird die Herkulesfigur
eingeführt. Ihre mythische Größe und schier tektonische Wirkkraft wird
umgehend deutlich, als Herkules der sterbenden Pirene eine Verlängerung des
Pyrenäenkamms als Mausoleum erbaut, an die sich heute ganz Katalonien
schmiegt. Damit sind die Größenordnungen gesetzt, in denen sich das Gedicht
von da an entwickelt. Herkules handelt zunächst selbstbestimmt, als er sich
zum Garten der Hesperiden begibt, dort den Orangenzweig erkämpft und nach
Spanien mitbringt. Spätestens in den daran anschließenden Ereignissen
erscheint er jedoch als ein Werkzeug Gottes, dessen Stirn zum einen die Funken
der göttlichen Inspiration erhalten hat (Gesang IV, Vers 1f) und hinter dem zum
anderen der riesige Racheengel Gottes steht:
L’hèroe, esblaimat, sospita que és tot allò un desvari,
quan veu a ses espatlles un Geni agegantat,
de qui la grega lira, profana en lo santuari,
ni, veu del cel, la Sibiŀla de Delfos, ha parlat.
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En llampegueig volcànic sos ulls grifolen ires;
terbolins l’arrebossen, fredat i confusió;
lo foc del cel li encercla corones de guspires;
li és música escoltívola l’espetegar del tro. (IV,61-8)
Erstaunt ob seiner Hände Werk, so steht
Der Held. Er wähnt zu träumen nur, da naht
Ein Engel ihm, ein Riese von Gestalt:
Der Griechen Leier kennt ihn nicht, den Namen
Verschwieg uns Delphis Götterstimme selbst.
Sein Flammenauge schleudert Zornesblitze;
Entsetzen, Sturm, Verwirrung ihn umhüllen;
Ein Feuerring umgibt ihn, funkensprühend
Aus des Gewandes Wolken zuckt der Blitz,
Und seine Stimme klingt wie Donners Rollen.
Der Engel teilt Herkules die Aufgabe zu, Europa von Afrika abzutrennen; er
selbst wiederum wird beide dann vom untergehenden Atlantis trennen. Doch
sind die beiden mythischen Riesenfiguren nicht allein am Werk: die Winde
kommen auf, die Pole speien Wolken, welche das Flammenschwert des Engels
entzünden wird. Mit den Stürmen der Luft, den Blitzen des Feuers, den
Wassern der Fluten und dem Beben der Erde sind mithin alle vier traditionellen
Elemente am Geschehen beteiligt, dabei aber nicht als Handelnde personifiziert,
sondern – neben oder über Herkules und dem Engel – Gottvater selbst. Er
ergreift das Wort und erklärt den in der Sünde liegenden Anlass für sein
strafendes Handeln:
-Al dar per cor la terra a eixams de mons, “Covau-la“,
los diguí a tots, “corona siau-li de claror,
i als braços amb cantúries, oh serafins, bressau-la,
que és l'home qui hi va a nàixer, l'amor del meu amor. “ […]
Prou juntí els continents, de l’aigua al destriar-los,
perquè en ma glòria unissen ses llengües en un cant;
mes lo pecat m’obliga, i amb quant dolor!, a esbullar-los;
quin mal t’he fet, fill d’Eva, que aixís m’ofengues tant? (IV, 145-8)
‚Ich gab dem Weltenschwarm als Herz die Erde,
Befahl den Sternen: Werdet ihre Krone!
Den Seraphim: In euern Armen wiegt sie!
Denn meiner Augen Weide ist der Mensch,
Den ich aus Erde schuf zu meiner Ehre. […]
Ich einte mir zum Preis die Ländermassen
Und schied sie von den Wassern. Doch die Schuld,
Friedlein: Der Untergang von Atlantis
229
Des Menschen Sünde zwingt mich, sie zu trennen.
Was that ich, Evas Sohn, daß du mir fluchest?
Das Geschehen erscheint hier und im Folgenden nicht in erster Linie als Ereignis
– für das ggf. eine Erklärung gesucht werden müsste –, sondern von vorneherein
als eine Tat, die aus der Perspektive von Handelnden vermittelt wird. Im
narratologischen Sinne wird die Erzählung vom epischen Erzähler vermittelt,
wobei die Fokalisierung jedoch nahe bei den Handelnden liegt, wenn Herkules
mit seiner Keule die Landbrücke entzwei schlägt oder der Racheengel mit
seinem Schwert den Atlantischen Graben furcht; allein Gottvater wird nicht
gezeigt, wie er seine Blitze niederkommen lässt, sondern der Leser sieht die
Szene von unten aus der Perspektive der Erdbewohner. Insgesamt stimmt die
Perspektive auf die Ereignisse am stärksten mit dem Blick des handelnden
Herkules überein (die deutlichste Ausnahme bildet der Gesang zum
Auftauchen der griechischen Inseln) und nicht etwa mit der Perspektive der
Opfer, der Atlanten und besiegten Monstren. Die drei Akteure stehen
grundsätzlich in einer aufsteigenden Hierarchie Herkules – Racheengel –
Gottvater, doch ergreifen auch die beiden Übergeordneten zuweilen
unmittelbar selbst das Werkzeug der strafenden Zerstörung. Eine interpretierende
Sinnzuweisung an die Ereignisse erübrigt sich dabei weitgehend,
da es um ein Handeln geht, das von mit eigenem Willen begabten Subjekten
verantwortet wird. Sie erläutern die Motivation für ihr Handeln bisweilen
ausdrücklich selbst.
2.) Diese Fokalisierung auf handelnde Subjekte erschwert es, das Geschehen als
‘Naturkatastrophe‘ im Sinne eines radikalen Vorgangs natürlicher Kräfte zu
bezeichnen. Zwar kommt Natur – auch unter dieser Bezeichnung – im Gedicht
durchaus vor, doch wo dies geschieht, erscheint die Natur als diejenige, die das
göttliche Rachehandeln erleidet und nicht etwa selbst vollzieht: Die Natur
erscheint als das Opfer der göttlichen Taten. So sind es im folgenden Zitat die
atlantischen Berge, die das Handeln des Racheengels erleiden:
Colgades en sepulcres d’escuma les muntanyes,
de peus al fang, responen amb crits i gemegor;
i s’ou, com si enrunassen mals genis ses entranyes,
de colps, esllavissades i enfondraments remor.
Sota el tallant la víctima forceja; mes, „Ovella“,
apar que l’Àngel cride, „no et caldrà, no, estrebar;
tes selves qui esplomissa, tos cingles qui estavella,
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230
qui ton camp d’aurífic velló, t’ha d’escorxar.“
Al seu voltant tot regne s’astora i tremoleja,
anyells que han vist l’ovella en mans del matador
i amb membres i ossos fora de lloc, lo món panteja,
sentint d’entre sos braços arrabassar lo cor.“ (V,16-28)13
Im Schaum begraben; schon den Fuß im Schlamm,
Dringt noch empor der Berge Klagelaut.
Selbst der Gestein felsenhartes Herz
Durchwühlen roh die finstren Höllenmächte.
Vernimmst du ihrer schweren Schläge Schall?
Und fühlst du ihrer harten Stöße Wucht?
Atlantis ist ins Innerste getroffen
Und windet sich als Opfer unterm Messer.
Doch mit der Stimme der Gerechtigkeit,
Die kein Erbarmen kennt, der Engel spricht:
„Umsonst ist all dein Kampf, umsonst dein Sträuben!
Der Herr, der deine Wälder niederreißt
Und deiner mächt’gen Berge Haupt zerschmettert,
Der deiner Fluren goldne Ernte mäht,
Zermalmt dich, Stolze, bis auf dein Gebein!“
Wie Lämmer, die in roher Schlächterhand
Das Schaf geschaut, so zittern rings die Länder.
Atlantis stöhnt, zerrissen sind die Glieder,
Und aus der Brust wird ihr das Herz geraubt.
In vergleichbaren Passagen stöhnt die Erde, als ihr das Herz ausgerissen wird,
oder sie wird aufgerissen, um ihre Eingeweide den Vögeln des Himmels zum
Fraß vorzuwerfen. An anderen Stellen sind es Tiere, Menschen und Pflanzen,
die ausgerupft oder hinweggerissen werden. Auch ganz Atlantis wird mit
einem gewaltsam entwurzelten Baum verglichen. Von einer Naturkatastrophe
könnte mithin allenfalls im genitivus objectivus die Rede sein, nicht also im Sinne
einer Katastrophe der Natur, sondern für die Natur; keineswegs also ein ‘blindes
Wüten‘ personifizierter Naturkräfte, sondern ein sinnträchtiges Handeln, das
diese Natur erleiden muss.
3.) Der Beweggrund, der den Allmächtigen zu seiner planetaren Strafmaßnahme
bringt, liegt in der Sündhaftigkeit der Atlanten, der männlichen Kinder
13 In diesem Zitat muss das Original besonders beachtet werden, da dort die Berge wie
Opferlämmer die Hiebe des Engels erfahren, während in der Übersetzung ‚Atlantis‘ die
Schläge erleidet.
Friedlein: Der Untergang von Atlantis
231
des Atlas und der Hesperis. In der Figur ihres Vaters Atlas fließen bei
Verdaguer Elemente aus mehreren mythologischen Traditionen zusammen, die
zuweilen als unterschiedliche Atlasfiguren verstanden werden, nämlich zum
einen der Titan namens Atlas, der im Herkulesmythos die Weltkugel schultert,
zum anderen ein König Atlas in Mauretanien, der als Astronom und Sänger
bekannt ist und als Personifikation des Atlasgebirges gilt, sowie schließlich
Atlas als Herrscher von Atlantis aus dem platonischen Mythos, der in
schwankender Identifikation mit den beiden zuvor genannten Figuren steht. Bei
Verdaguer kommen alle drei Aspekte in der Atlas-Figur von L’Atlàntida
zusammen. König Atlas pflegt hier bis zu seinem Tode mit seiner Gattin
Hesperis Dichtung und Tanz. Während ihre Töchter, die Hesperiden,
unschuldig bleiben und deshalb nach dem Untergang ihres Landes zu einem
Sternbild am Himmel werden können, gilt das Gegenteil für die Söhne, die
Atlanten (oder Titanen). Sie verfallen der Sünde der voluptas, indem sie ihrer
Mutter Hesperis die inzestuöse Liebe antragen, und der superbia bei ihrem
hochmütigen Versuch des Turmbaus zur Erstürmung des Himmels. Im
Fortgang der Katastrophe entwickelt sich damit zunehmend ein Kampf
zwischen Gut und Böse, in dem die Atlanten immer verzerrter und diabolischer
erscheinen und alsbald in ihrer Attacke auf Herkules von diversem
Höllengezücht und schreckeinflößenden Gestalten aus der libyschen Wüste
sekundiert werden. Es geht mithin um Sünde gegen Unschuld, um Himmel
gegen Hölle und – stellenweise ist das leider klar erkennbar – um Afrika gegen
Europa. Nicht umsonst trennt Herkules den neuen Garten der Hesperiden auf
der Iberischen Halbinsel mit seinem Keulenschlag in einer überdeutlichen
Grenzziehung von Afrika ab. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, dass
L’Atlàntida zur Zeit nach dem ersten spanischen Marokkokrieg (Guerra de África,
1859-60) entsteht, der besonders in Katalonien einen nie dagewesenen patriotischen
und antiislamischen Furor auslöste (Kühne 2017); gab es doch in diesem
kolonialen Eroberungskrieg ein eigenes katalanisches Freiwilligenbataillon,
und der katalanische General Prim führte die spanischen Truppen. Wie es
L’Atlàntida deutlich bezeigt, definiert sich die aufkommende katalanische
Nation in diesen Zeiten noch in ihrer identitären Absetzung von Afrika und
noch nicht wie beginnend mit dem Ende des 19. Jahrhunderts in erster Linie in
Absetzung von Spanien.
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4.) Geprägt ist der Text zudem durch teilweise ausdrücklich benannte biblische
Vergleiche und durch Motivähnlichkeiten mit verschiedenen alttestamentlichen
Geschichten. Dies gilt für die Paradieserzählung mit der Vertreibung aus
dem Garten Eden, die durch den Drachen am Orangenbaum und die Flucht von
Herkules und Hesperis evoziert werden; es gilt aber genauso offensichtlich für
Sodom und die Sintflut sowie für den Turmbau zu Babel. Wie die alttestamentlichen
Episoden göttlicher Sündenstrafung der Menschheit die Möglichkeit
einer Neubesiedlung eröffnen, so kommt es bei Verdaguer nach der atlantischen
Flut zur Neubesiedlung der Iberischen Halbinsel. Herkules kommt dabei
die Funktion zu, die, in der postbiblischen Mythenbildung, nach der Sintflut die
Söhne Noahs und speziell in Spanien Tubal innehatten. So wie Adam und Eva
nach der Vertreibung mit dem Landbau beginnen, pflanzen Herkules und
Hesperis nach dem Untergang von Atlantis den Hesperidengarten neu. Und
wie schließlich die strafende Sprachverwirrung für den Turmbau zu Babel im
Neuen Testament von den sprachbegabten Aposteln Christi aufgehoben wird,
indem sie die Menschheit wieder zusammenführen, leitet nach der atlantischen
Kontinententrennung Kolumbus die Neuverbindung des zerschmetterten
Urkontinents ein. Das Epos erzählt somit eine Geschichte von Sünde, Gottesstrafe
und Versöhnung mit Kolumbus als dem Überbringer der Religion nach
Amerika, die im Prinzip als heilsgeschichtliche Sinnkonstruktion angelegt ist.
Eine trinitarische Lektüre mit Gottvater als Strafendem, Herkules als seiner
Erscheinung in Menschengestalt, die auf Christus verweist, sowie Kolumbus
und den Amerikamissionaren als Reparierenden unter der Leitung des Heiligen
Geistes ist nicht ausdrücklich ausgeschlossen, und L’Atlàntida ließe sich in diese
Richtung weiterdenken, wie es in anderen Bearbeitungen des Kolumbusstoffs
gewiss geschehen ist.14 Doch sind messianische Züge in der Nebenfigur
Kolumbus in L’Atlàntida nur potenziell angelegt und die christliche Mission in
Amerika wird nicht erwähnt, wie überhaupt auf die ganze Kolumbusfahrt nur
vorausgewiesen wird. Eine heilsgeschichtliche Konstruktion ist somit nicht die
tragende Sinnstruktur des Gedichts.
5.) Der Antagonismus von Gut und Böse wird bei Verdaguer in einer weiteren
Isotopie gestaltet, die im Folgenden zur Formulierung der verdaguerianischen
14 In der zahlreich vorliegenden spanischen Kolumbusepik des 19. Jhds. kann nachgeprüft
werden, in wie weit diese hispanische Heilsrolle für die Welt dort ausbuchstabiert ist. Thomas
Bremer hat dazu bereits eine wichtige Falluntersuchung vorgelegt (Bremer 1992).
Friedlein: Der Untergang von Atlantis
233
These überleiten soll. Zunächst ist auffällig, wie sehr Herkules im Verlauf der
Ereignisse als ein terrestrischer Held erscheint. Zwar kämpft er sich aus Atlantis
durch die Fluten und obsiegt über die Widrigkeiten, doch wird er damit
keineswegs zu einem zweiten Odysseus, Aeneas, Kolumbus oder Vasco da
Gama, wie die Helden anderer Epen heißen, die auf ihren Schiffen eine gewisse
Verbindung mit dem Meer eingehen. Herkules kämpft sich bei Verdaguer zu
Fuß durch die Fluten, und das Meer bleibt sein elementarer Gegner, dem er mit
brachialer Kraft begegnet, ohne wie die epischen Seefahrerhelden die Kräfte des
Meeres mit navigatorischem Geschick für ihre Ziele einzusetzen. Im Gegensatz
zum terrestrischen Herkules ist das Reich der Atlanten, auch wenn es bei
Verdaguer nicht auf einer Insel liegt, in besonderer Weise dem Meer verbunden.
Neptun, der Meeresgott Poseidon, wird hier als der Urvater der Atlantiden
benannt, und unter seinem Götterbild versammeln sich die Söhne des Atlas. Mit
seinem Dreizack als Waffe in der Hand betreiben die Atlanten ihre vergebliche
Erstürmung des Himmels. Als die Katastrophe da ist, wird der Garten der
Hesperiden von den Monstren des Meeres bevölkert. Wie in der Fluterzählung
in den Metamorphosen des Ovid erscheint das Meer, hier in Verbindung mit
Atlantis, als eine bedrohliche maritime Gegenwelt.15 Als nach dem Zusammenbruch
der Ozean Atlantis unter seinen Wassern begraben hat, bleiben als kleine
Spuren die atlantischen Inseln über dem Wasserspiegel übrig. Genannt werden
die Azoren und Madeira, und allen voran Teneriffa mit dem Teide. Sie
erscheinen in L’Atlàntida keineswegs als die Inseln der Glückseligen oder als
Garten der Hesperiden, mit denen sie in der literarischen Tradition seit der
Antike immer wieder assoziiert werden (Martínez, 1992). Nach dem Untergang
sind der Teide und die anderen Vulkane bei Verdaguer nur noch die Schlote
der Hölle, in denen bis heute noch die Titanen zuweilen herauf- und
hinabgewirbelt würden.16
15 Joan Bastardas weist für L’Atlàntida eine eindeutige Intertextualität zur ersten
Metamorphose auf, die in Verdaguers früheren Bearbeitungen des Atlantisstoffes noch nicht
ersichtlich ist (Bastardas 1980 und Farrés 1992b: 49–52).
16 Teneriffa und der Teide werden nicht erstmals von Verdaguer, sondern bereits in der
einheimischen Historiografie bei Viera y Clavijo als Zugang zur Hölle benannt (Farrés 1992b:
14).
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5. Autoreflexivität in L’Atlàntida und die Mediterranisierung des
Atlantismythos
Gegen diese bedrohliche Welt des Atlantiks nimmt sich das Mittelländische
Meer mit seinen Inseln gänzlich anders aus. Durch den Abfluss der Wasser
waren Delos, die Zykladen, die Halbinsel des Peloponnes, die Äquinaden,
Lesbos und Sizilien als ein singender Chor erschienen. Bei der Neubesiedlung
Spaniens wird Baleus, der Sohn des Herkules, zudem von einer weiteren bezaubernden
Weiblichkeit angelockt: das personifizierte Mallorca singt eine Ballade
und lädt ihn zum Bleiben auf den Inseln ein, die fortan die Balearen heißen
werden.
Auf den untergegangenen alten Garten der Hesperiden in Atlantis folgt der
neue Garten auf der Iberischen Halbinsel, was in der Verdaguer-Exegese
vielfach Anlass dazu gegeben hat, der Gründungsdimension von Verdaguers
Epos spanisch, hispanisch oder katalanisch geprägte Lektüren angedeihen zu
lassen. Víctor Martínez-Gil revidiert diese Lektüren in einem kapitalen Beitrag
zur ideologischen Einordnung von L‘Atlàntida und arbeitet heraus, dass das
Gedicht unter allen Texten Verdaguers am deutlichsten als ein iberistischer Text
im Diskurszusammenhang des Iberismus der spanischen Restauration gesehen
werden muss (Martínez Gil 2010). Am stärksten bildhaft wird diese iberistische
Konzeption anhand des Ablaufs der Neubesiedelung, welche Herkules und die
Herkuleiden nach dem Tode der Hesperis unternehmen. Unter ihren Niederlassungsorten
werden Galicien, Portugal und die Nordküste erwähnt, dazu
kommen Sevilla, Valencia, die Balearen, Sardinien und Barcelona.17 Der neue
Garten der Hesperiden wird mithin ganz dezentral allein anhand seiner
Peripherie gezeigt. Insbesondere in Portugal wurde diese iberistische Konzeption
von Zeitgenossen erkannt und wohlwollend aufgenommen, wovon die
portugiesische Übersetzung A Atlântida aus der Feder von José M. Gomes
Ribeiro aus dem Jahre 1909 Zeugnis ablegt.
17 Isabella von Kastilien taucht zwar am Ende der Rahmenhandlung auf, befindet sich aber
beim Treffen mit Kolumbus in der Alhambra von Granada nahe der andalusischen
Mittelmeerküste. Wie Pere Farrés in seiner Quellenuntersuchung zum Kolumbusstoff bei
Verdaguer nachgewiesen hat, hält sich Verdaguer ganz überwiegend an die historische und
mythografische Quellenlage, verlegt in diesem Fall allerdings das Treffen des Kolumbus mit
Isabella, das im nahe bei Granada gelegenen Santa Fe stattgefunden hat, in den Thronsaal der
Alhambra (Farrés 1993–94).
Friedlein: Der Untergang von Atlantis
235
An diese iberistische Lektüre soll hier die Beobachtung angeschlossen werden,
dass aus der Perspektive der Geschichte des Atlantismythos gesehen, Verdaguers
Epos eine Gewichtsverlagerung ins Mittelmeer und zu dessen Inselwelt
vollzieht. Seinem Namen zum Trotze ist L’Atlàntida letztlich kein Epos allein
des Atlantischen Ozeans, und es ist der Kolumbus-Figur zum Trotze noch
weniger ein Amerika-Epos. In raumanalytischer Sicht wird die Zielrichtung des
Gedichtes an der Bewegung ihres Heldenprotagonisten erkennbar. Er muss
zunächst zweimal hinaus nach Atlantis, doch liegt die Hauptsache seiner
Leistung im Erkämpfen des Weges durch die Wellen zurück aus dem Chaos der
Katastrophe nach Iberien. Die wesentliche Dynamik des Gedichts spannt sich
vom Atlantik nach Spanien hin und nicht umgekehrt wie in den Entdeckerepen
über Kolumbus oder Vasco da Gama. Wenngleich Kolumbus im historischen
Epilog von L’Atlàntida durch das Vernehmen des Mythos auf den Atlantik
hinausgelockt wird zu transatlantischen Ländern, so lässt Verdaguer diese an
keiner Stelle bildhaft werden. Das Gedicht tendiert in seinem Schwerpunkt
vielmehr weg vom Atlantik auf die Halbinsel. Dass in letzter Instanz damit eine
Mediterranisierung des Atlantismythos aus der Hand eines terrestrischen
Helden einhergeht, die der iberistischen Gesamtanlage keinen Abbruch tut,
beweist ein Blick auf die autoreflexive Dimension des Gedichts, die hier
abschließend betrachtet werden soll.
In Bezug auf Verdaguers Dichtung wurden die Begriffe Poetologie und
Autoreflexivität bislang kaum verwendet, wenngleich einzelne Arbeiten zu
Verdaguers poetologischen Konzepten insbesondere im Hinblick auf die Lyrik
selbstverständlich vorliegen.18 Besonders hinsichtlich Verdaguers Epik wurde
die autoreflexive Dimension bislang jedoch kaum als solche untersucht. In
L’Atlàntida erscheinen mir in dieser Hinsicht insbesondere vier Aspekte zu
beachten zu sein.
1.) Atlantis und speziell der Garten der Hesperiden werden als Hort von Musik
und Tanz dargestellt, wie es in der romantischen Tradition des Atlantismotivs
im Heinrich von Ofterdingen bei Novalis sowie bei E.T.A. Hoffmann, wenn auch
18 So untersucht Francesc Codina das Nachtigallenmotiv mit seinem poetologischen Gehalt,
insbesondere in der lyrischen Dichtung Verdaguers (Codina 2003). Im Hinblick auf die epische
Dichtung Verdaguers liegt ein Versuch vor, in einer autoreflexiven Lektüre von Canigó
aufzuzeigen, wie das Gedicht die Figur seines Erzählers gestaltet und damit poetologisch
relevante Aussagen trifft (Friedlein 2019).
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in ganz anderen narrativen Ausgestaltungen des Atlantismotivs, ebenfalls
geschehen war (Foucrier 2004: 273-345). Bei Verdaguer fällt auf, wie das Reich
von Dichtung und Musik in seinen beiden epischen Gedichten mit der
Sinnlichkeit und der Sünde verbunden ist, die letzten Ende ausgetrieben und
durch eine erneuerte Dichtungskonzeption ersetzt werden. Dies gilt für das
Reich der singenden und tanzenden Feen in Canigó wie für den Garten der
Hesperiden in L’Atlàntida.19
2.) In L’Atlàntida bleibt nach der Auslöschung der Sünde ein Teil des Erbes des
Gartens der Hesperiden erhalten, als Herkules in seiner doppelten Rettungstat
erst den Orangenzweig und dann Hesperis mit ihrer Leier auf das iberische
Festland bringt. Mit ihnen wird die Kunst in den neuen Garten übertragen.
Analog zur traditionellen Idee der translatio imperii kann der Übertrag von
Atlantis nach Iberien als eine translatio artium verstanden werden. Hesperis als
Trägerin dieser künstlerischen Tradition bringt somit die lletres (“Literatur“) in
die Verbindung mit Herkules ein, der seinerseits die armes (“Waffen“) und das
praktische Wissen verkörpert. Das Motto der spanischen Renaissancegelehrten,
armas y letras, wird damit in den Figuren Hesperis und Herkules für das neue
Hispanien miteinander verbunden.20
3.) Hesperis bleibt in dieser Dynamik trotz allem in Gedanken bei ihrem ersten
Gatten Atlas, auch wenn sie, die Schwarzäugige und Schwarzhaarige, sich in
ihr Schicksal mit dem im Übrigen blonden Herkules als neuem Gatten fügt. Der
neuen Verbindung zum Trotz überwältigen Hesperis letztlich im Exil die
Sehnsucht und die Trauer um das verlorene Land ihrer Jugend, ihrer Kunst und
ihrer Familie aus Mann und Kindern.21 Sie stirbt daher als eine romantische
Dichterfigur, die eine Verpflanzung in die Fremde nicht überleben kann, nach
19 Hesperis singt im Rückblick auf ihre Jahre mit Atlas: „Los ulls a l’estelada, dalt, part
damunt la pensa, / cantava ell les celísties i el fill de l’alba ros, / dels mons que infantà l’Eros
i cova, l’avinença; / i amb àurea lira, jo ales donava al rim festós“ (VI,57-60) – „Und wenn ich
abends in die Sterne schaute, / Stieg höher noch mein sinnender Gedanke: / Der
Himmelslichter Glanz, das Abendroth, / Sie sangen jubelvolle Weisen mir; / Mir sang der
Welten Chor, die Eros schuf. / Und wie berauscht griff ich zur goldnen Leier / Und schwebt‘
in Liedern auf zu Sternenhöhen.“ In der Übersetzung geht verloren, dass Atlas der Sänger und
seine Gattin die Leierspielerin dieses gemeinsamen Musizierens sind.
20 Herkules selbst benennt diese Verbindung in seiner Rede an Hesperis (VI, 139–143).
21 Vgl. die Charakterisierung der Hesperis von Pere Farrés in Verdaguer (2002: 55f.).
Friedlein: Der Untergang von Atlantis
237
ihrem Schwanengesang dahin.22 Diese diegetische Darstellung einer Dichterin
bildet einen Angelpunkt der Autoreflexivität in L’Atlàntida.
4.) Die Dichtung im neuen Garten der Hesperiden steht jedoch nicht einzig und
unverändert in der Tradition von Atlantis, da auch die neugeborenen
griechischen Inseln mit der Dichtung verbunden sind. Lesbos erzählt nach
ihrem Auftauchen aus den Fluten den Mythos des ersten Dichters Orpheus und
Verdaguer selbst kommentiert in einer Anmerkung zu dieser Stelle seines
Gedichts: „Los lesbians eren los millors músics de Grècia. Eixa illa encantadora
fou mare de Safo i de Terpandro, que posà set cordes a la lira“.23 Am Ende der
Reihe der sieben Einzelgesänge der griechischen Inseln stimmen sie zusammen
einen Geburtsgesang (càntic de naixença) an, der die Vergöttlichung des
Herkules einleitet. Von hier stammen somit die neuen, goldenen Saiten, welche
auf der Leier der Hesperis durch ‚den Griechen‘ hinzugefügt und den
Nachkommen vererbt werden, wie der Erzähler an späterer Stelle berichtet. Die
Dichtung im neuen, iberischen Hesperia versteht Verdaguer mithin als eine
Verbindung der atlantisch-afrikanischen mit der griechisch-antiken Tradition.
Dieses doppelte Erbe der Dichtung führt dazu, dass dort noch in der Zeit des
Erzählers die heroische wie die Liebesdichtung eine große ästhetische und
emotionale Wirkung auslösen:
A sos fills i nissaga deixà’ns la dolça lira;
lo grec degué afegir-hi vibrantes cordes d’or:
puix quan canta les guerres, i quan d’amor sospira,
desvetlla encara els somnis o tempestats del cor. (X, 90-94)24
22 Hesperis klagt dem neu blühenden Orangenzweig: „... jo, esqueix trasplantat a platja
forastera, / no sé, ai de mi!, arrelar-me, ni reflorir com tu.“ (X,37f.). In Clara Commers freier
Übersetzung: „[...] du kannst noch Wurzeln treiben, kannst / Noch grünen, blühn und goldne
Früchte tragen! – / Ach könn‘ ich doch wie du noch einmal blühen!“
23 „Die Lesbier waren die besten Musiker Griechenlands. Diese zauberhafte Insel war die
Mutter von Sappho und Terpandros, der die sieben Saiten [statt vorher vier, R.F.] auf die Leier
spannte“.
24 Die Übersetzerin Clara Commer fühlte sich an dieser Stelle dazu beflügelt, die vierzeilige
Strophe Verdaguers in eine 32 Verse umfassende deutsche amplifizierte Invokation der
Dichtung in Spanien zu überführen, die wir hier nicht wiedergeben (Commer in Verdaguer
1897: 150f.). In wörtlicher Übersetzung lauten die Verse: „Ihren Kindern und ihrer Sippe
hinterließ Hesperis die süße Lyra; / der Grieche sollte ihr klingende Saiten aus Gold
hinzufügen: / Denn wenn sie heute Kriege besingt oder aus Liebe seufzt, / erweckt sie noch
immer Träume und Stürme des Herzens.“
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Nach dem Untergang von Atlantis und dem Tod der Hesperis gibt es nur eine
weitere poetische Stimme, die neben den griechischen Inseln ein Lied erklingen
lässt. Die ‚Balada de Mallorca‘, die Baleus sirenengleich zu seiner Insel lockt,
lässt durch ihre formale Sonderstellung die Besiedlungsepisode Mallorca als
eine Besonderheit in der Neubesiedlung der Iberischen Halbinsel erscheinen. Es
erklingt in dieser Ballade ein Ursprungsmythos der zauberhaft schönen
Balearischen Inseln als den mythischen Scherben eines zerborstenen Tonkruges.
Als einziger Herculeide wird Baleus durch Gesang zum Bleiben gebracht, und
nur seine Episode weist überhaupt eine intradiegetische Rede auf. Dies macht
Mallorca zur ästhetischen Krönung der iberischen Neubesiedlung.
6. Fazit
Verdaguers L’Atlàntida liest sich in dieser Perspektive als eine Ursprungserzählung
der Dichtung im neuen Hesperia. Geboren ist dieses iberische Land
aus einer göttlichen Sündenstrafe. Die vernichtende Katastrophe löschte jedoch
das Land Atlantis nicht vollständig aus, sondern seine künstlerische Tradition
lebt im neuen Hesperia transformiert und mit der griechischen Tradition
verbunden weiter. Diese fruchtbare Verbindung, die Gesang und Dichtung im
neuen Hesperia prägt, ist ganz besonders auf dessen mittelmeerischer und
Griechenland zugewandten Seite verortet. Für die Geschichte des Atlantismythos
heißt dies: Verdaguer macht ihn zu einem Ursprungsmythos der
iberischen und speziell katalanischen Dichtung und führt ihn heim ins
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